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Was ist China? An dieser scheinbar einfachen Frage scheiden sich die Geister, von den herrschenden Klassen bis zur Linken. Für den amerikanischen Kapitalisten Ray Dalio handelt es sich um ein staatskapitalistisches Regime, wo „Kapitalismus und Kapitalmarktentwicklung in China in ein paar Jahren stärker vorherrschen könnten als in den USA“. Xi Jinping, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), widerspricht solchen Auffassungen rundheraus:
Beide Auffassungen spiegeln unterschiedliche Interessen wider: Dalio gibt die Interessen des ausländischen kapitalistischen Investors wider, Xi die des KPCh-Regimes. Aber was ist mit der Arbeiterbewegung? Wie verhält es sich mit dem Charakter Chinas vom Standpunkt der Interessen der internationalen Arbeiterklasse?
Dies ist für die Linke heutzutage eine der wichtigsten und umstrittensten Fragen. Es gibt einige, die vor den Verbrechen der KPCh die Augen verschließen und China als sozialistisches Modell betrachten, dem man nacheifern sollte. Doch diese Auffassung ist in der internationalen marxistischen Bewegung nach wie vor in der Minderheit. Die meisten Organisationen behaupten, China sei eine kapitalistische und/oder imperialistische Macht. Von den Parteien, die sich als trotzkistisch bezeichnen, vertreten die International Socialist Alternative (ISA), die Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI – ehemals IMT), die Trotzkistische Fraktion und viele andere solche Auffassungen. Dasselbe gilt für Stalinisten der alten Schule wie die griechische KKE und die meisten Maoisten außerhalb Chinas, zum Beispiel die MLPD in Deutschland und die Sisonisten auf den Philippinen.
Der vorliegende Artikel richtet sich gegen diesen Trend. Wir werden zeigen, dass diejenigen, die behaupten, China sei kapitalistisch und imperialistisch, weit davon entfernt sind, eine tragfähige politische Alternative zur KPCh zu bieten. Sie versuchen lediglich, sich mit den USA und ihren Verbündeten zu versöhnen. Was die von ihnen angeführten Argumente betrifft, so negieren sie grundlegende marxistische Prinzipien hinsichtlich des Staates und des Imperialismus. Zunächst werden wir darauf eingehen, warum China nicht imperialistisch ist. Dann werden wir darlegen, dass China trotz beträchtlicher kapitalistischer Durchdringung nach wie vor die Grundzüge eines deformierten Arbeiterstaats aufweist. Dabei wird das grundlegende Argument herausgearbeitet, dass das Vorantreiben der Interessen der Arbeiterklasse mit dem Widerstand gegen die von den USA dominierte Weltordnung beginnen muss. Diese Aufgabe erfordert die Verteidigung der verbleibenden Errungenschaften der Chinesischen Revolution von 1949, aber auch den Kampf für eine politische Revolution gegen die stalinistische KPCh-Bürokratie, die China mit ihrer Strategie und Politik in die Katastrophe führt.
Erster Teil: China ist nicht imperialistisch
1. Marxismus kontra Empirismus
Die unterschiedlichsten Leute werfen in den verschiedensten Zusammenhängen mit dem Begriff „Imperialismus“ um sich. Um die Behauptung, China sei imperialistisch, objektiv zu bewerten, muss man das liberale Gezeter ausblenden und das Problem von einem marxistischen Standpunkt aus angehen. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, Imperialismus zu definieren. Die meisten werden Lenins Definition zustimmen:
Umstritten ist vielmehr, welche Länder heute imperialistisch sind. Einige stellen China, Brasilien und sogar Griechenland auf eine Stufe mit den USA, während andere bestreiten, dass Japan und Deutschland überhaupt Großmächte sind.
Dieses breite Spektrum von Auffassungen ist ebenso ein Problem der Methode wie des Programms. Man darf die Frage des Imperialismus keinesfalls vom Standpunkt der Moral oder von abstrakten Idealen aus angehen, sondern muss ihn in seiner konkreten historischen Entwicklung untersuchen, d. h. mithilfe des dialektischen Materialismus. Die von Marx entwickelte Analyse des kapitalistischen Systems zum Beispiel untersucht, wie es sich als eigenständige Produktionsweise aus dem Klassenkampf der vorangegangenen feudalen Ordnung herausgebildet hat. Auf dieselbe Art muss der Imperialismus betrachtet werden: als lebendiges System, das sich im Laufe der Klassenkämpfe des letzten Jahrhunderts entwickelt hat und in dem ein einzelnes Land als Teil des Ganzen existiert.
Das ist nicht die Methode der Linken. Ein vulgäres, aber repräsentatives Beispiel dafür, wie sie die Frage angehen, findet sich in dem ISA-Artikel mit der Überschrift „Is China Imperialist?“ [Ist China imperialistisch?] (chinaworker.info, 14. Januar 2022). Um die Frage zu beantworten, wird in dem Artikel nachgeprüft, ob China den verschiedenen Punkten aus Lenins Definition entspricht. Besitzt es Monopole? Exportiert es Finanzkapital? Verfügt es über ein großes Militär? Ist jedes Kästchen auf der Checkliste angekreuzt, gilt China als imperialistisch.
Das ist kein Marxismus, sondern Empirismus. Anstatt die Entwicklung Chinas innerhalb des Weltsystems zu betrachten, beurteilt die ISA den Charakter des Landes, indem sie einfach empirische Fakten (Größe der Armee, Menge des exportierten Kapitals usw.) mit einer abstrakten Norm (Lenins Definition) vergleicht. Übertragen auf die Biologie wäre dies so, als würde man die Arten nur anhand ihrer physischen Merkmale kategorisieren und ihre Evolution ignorieren. Das Problem bei dieser Methode ist, dass sie praktisch rein subjektiv ist und es keine Möglichkeit gibt, objektiv zu entscheiden, welche Merkmale für den Umschlag von Quantität in Qualität maßgeblich sind. Mit diesem Ansatz ist es möglich, eine Reihe von Fakten auszuwählen, um zu „beweisen“, dass ein bestimmtes Land imperialistisch ist, ebenso wie eine andere Auswahl das Gegenteil beweisen kann.
Um solche haarspalterischen Debatten darüber, wer zum Klub der Imperialisten gehört, zu durchbrechen, muss man sich der gesamten Frage dadurch nähern, dass man untersucht, wie sich der Imperialismus konkret historisch entwickelt hat. Und um den spezifischen Platz Chinas in diesem System zu bestimmen, ist es notwendig, seine eigene Entwicklung in die des gesamten Weltsystems einzuordnen. Nur auf diese Weise können wir eine marxistische Antwort auf das Problem erhalten.
2. Die US-Weltordnung und China
Ausgangspunkt jeder Analyse des heutigen imperialistischen Systems muss das Jahr 1945 sein. Aus dem größten Gemetzel der Menschheit gingen die USA als dominierende imperialistische Macht hervor. Unter diesen Rahmenbedingungen wurden die Grundpfeiler der heutigen Weltordnung errichtet. Der US-Dollar als Weltreservewährung, die UNO, der IWF, die NATO und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Vorläuferin der Europäischen Union – EU) wurden allesamt geschaffen, um der UdSSR entgegenzutreten und den USA exorbitante Privilegien einzuräumen. Die anderen kapitalistischen Mächte – Britannien, Frankreich, Deutschland und Japan – hatten kaum eine andere Wahl, als den USA zu folgen. Die alten Kolonialreiche spielten bald keine unabhängige Rolle mehr in der Weltpolitik, ihr Status und ihre Privilegien hingen nun von ihren Beziehungen zu den USA ab.
Was China betrifft, so war das Land nach einem Jahrhundert imperialistischer Ausplünderung auf den Status einer Neokolonie herabgesunken. Der ständige Sitz, den es im UN-Sicherheitsrat erhielt, spiegelte lediglich wider, dass es ein amerikanischer Verbündeter gegen Japan war. Dieses Verhältnis änderte sich jedoch grundlegend, als 1949 Maos Bauernarmee das nationalistische Regime Chiang Kai-sheks besiegte, was zur Flucht der chinesischen Bourgeoisie nach Taiwan, zur Befreiung Chinas vom imperialistischen Joch und zur Errichtung eines Arbeiterstaats führte. Die Chinesische Revolution war ein demütigender Schlag für die USA und führte unmittelbar zu einer Eskalation des Kalten Krieges. Um die Ausbreitung des Kommunismus zu stoppen und ein „zweites China“ zu verhindern, starteten die Amerikaner die McCarthy-Hexenjagd und intervenierten militärisch auf der koreanischen Halbinsel und später in Vietnam. In dieser Zeit standen sich die USA und China als Antagonisten in einer Weltordnung gegenüber, die von Konflikten über den Kommunismus, Kolonialkriege und die UdSSR geprägt war.
Dies änderte sich 1972 erneut grundlegend, als Nixon und Mao einen Pakt gegen die Sowjetunion schlossen. Da die USA in Vietnam gerade eine Niederlage erlitten, versuchten sie, ihre Position zu stärken, indem sie den zwischen der Sowjetunion und China entstandenen Konflikt ausnutzten. Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen verbesserten sich weiter, als Deng Xiaoping Maos Nachfolge antrat und die „Reform- und Öffnungspolitik“ zur wirtschaftlichen Liberalisierung einschlug. Allerdings hatten die bilateralen Beziehungen einen sehr eigenartigen Charakter. Die beiden Länder arbeiteten gemeinsam an der Schwächung der Sowjetunion, doch ihre Gesellschaftssysteme blieben grundlegend gegensätzlich.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 markierte einen dramatischen Wendepunkt in der Weltlage und läutete eine neue Ära in den Beziehungen zwischen China und dem Westen ein. Nach dem Ende der UdSSR waren die USA die unangefochtene Weltmacht. Die amerikanische Dominanz und die Öffnung des chinesischen Marktes schufen die Voraussetzungen für die als Globalisierung bekannte massive Ausweitung von Auslandsinvestitionen und Handel. China wurde zum industriellen Zentrum der Welt, wo ausländische Unternehmen auf billige Arbeitskräfte, staatliche Planung und von der KPCh garantierten Arbeitsfrieden zählen konnten.
Aus amerikanischer Sicht stellte die Marktliberalisierung in China eine riesige Chance dar. Zudem wurde der chinesische Kommunismus, nachdem die liberale Demokratie „den Kalten Krieg gewonnen“ hatte, nicht mehr als Bedrohung angesehen, sondern einfach als Anachronismus, der durch die wirtschaftliche Integration mit dem Westen überwunden werden würde. Diese Stimmung brachte US-Präsident Bill Clinton deutlich zum Ausdruck, der meinte, dass „China mit dem Beitritt zur WTO [Welthandelsorganisation] nicht nur damit einverstanden ist, mehr unserer Produkte zu importieren, sondern auch einen der am meisten geschätzten Werte der Demokratie: wirtschaftliche Freiheit... Und wenn es in der Macht des Einzelnen liegt … seine Träume zu verwirklichen, wird er ein größeres Mitspracherecht fordern“ (9. März 2000).
Aus Sicht der KPCh war die neue Ära mit vielen Gefahren verbunden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war eine Warnung, was passieren würde, sollte die Partei ihre politische Kontrolle über das Land verlieren. Gleichzeitig hatte der Tiananmen-Aufstand 1989 gezeigt, dass die Massen unruhig waren und bessere Lebensbedingungen forderten. Die Lähmung wurde 1992 durch Dengs „Südtour“ durchbrochen, eine Kampagne, die die Partei nachdrücklich auf seine Agenda der Marktliberalisierung einschwören sollte. Die Idee war, dass ein ausreichendes Wirtschaftswachstum die politische Unzufriedenheit dämpfen und die Macht des Regimes festigen würde.
Das erwies sich als erfolgreich. Entgegen den amerikanischen Erwartungen führte die wirtschaftliche Integration Chinas nicht zum Sturz der KPCh oder zum Zusammenbruch der Staatsmonopole. Die konvergierenden Interessen der KPCh und ausländischer Kapitalisten in den 1990er- und 2000er-Jahren verringerten den allgemeinen Druck auf das Regime und ermöglichten es China, sich durch die Verbindung von staatlicher Wirtschaftskontrolle mit Liberalisierung der Kapitalströme und Ausweitung des Handels mit unglaublicher Geschwindigkeit zu entwickeln.
Es ist wichtig, diese Dynamik zu verstehen. Chinas explosives Wachstum erfolgte durch seine Integration in das US-Wirtschaftssystem, nicht in Opposition dazu. Chinas Außenpolitik war – wie die aller stalinistischen Regime – stets von dem Ziel geleitet, eine friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus zu erreichen. In der Tat hat China bis heute keinen der Grundpfeiler der US-Vorherrschaft in Frage gestellt. Es trat der WTO bei, unterstützt IWF und UNO und handelt und investiert nach wie vor überwiegend in US-Dollar. Vor allem aber hat China nichts unternommen, um die USA als weltweite militärische Ordnungsmacht abzulösen.
3. Der Niedergang der US-Hegemonie
Der Widerspruch, der der heutigen Weltlage zugrunde liegt, besteht darin, dass die Hegemonie der USA zwar die Voraussetzungen für das erhebliche Wachstum Chinas und anderer Länder des Globalen Südens geschaffen hat, dass dies aber wiederum die amerikanische Position geschwächt hat. Die herrschende Klasse der USA ist sich dessen bewusst und untergräbt zunehmend die Hauptpfeiler ihres eigenen liberal-demokratischen Weltsystems. Typisch für diesen Wandel ist Donald Trump, der im Jahr 2015 bei der Ankündigung seiner ersten Präsidentschaftskandidatur erklärte:
Sinnbildlich dafür, dass die liberale Ordnung für die USA selbst zu einem Hindernis wird, droht Washington damit, den Internationalen Strafgerichtshof wegen seiner Ermittlungen gegen Israel zu sanktionieren, erwägt die Streichung der Mittel für die UNO und spricht sich manchmal sogar gegen NATO und EU aus. Die KPCh ihrerseits glaubt immer noch, dass die Globalisierung eine unveränderliche Kraft der Geschichte sei und China sich weiterhin innerhalb der von den USA aufgestellten Regeln entwickeln könne. Wir befinden uns nun in der bizarren Situation, dass China Freihandel und internationales Recht predigt, während die USA und die EU Protektionismus befürworten und ihre eigenen internationalen Regeln missachten.
Insgesamt unterscheidet sich die gegenwärtige Periode stark von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der klassischen Periode zwischenimperialistischer Rivalitäten. Damals sahen sich die etablierten Imperien Frankreichs, Britanniens und Russlands mit aufstrebenden imperialistischen Mächten (Deutschland, Japan und den USA) konfrontiert, die ihre eigenen Kolonialreiche aggressiv ausbauten. Anfang der 1900er-Jahre war das imperialistische System fragmentiert, und Instabilität entstand durch die Expansionsgelüste neuer, aber bereits etablierter Imperien.
Seit 1945 ist das imperialistische System vereinigt. Heute zerfällt das hochintegrierte imperialistische Kartell, das von den USA dominiert wird, zunehmend aufgrund des Aufstrebens verschiedener regionaler Mächte. Es handelt sich dabei um Länder, die in den letzten Jahrzehnten von den USA und ihren Verbündeten massiv in die Enge getrieben wurden, die nun aber die Anerkennung ihrer regionalen und nationalen Interessen einfordern. Da die Stabilität des Weltsystems von der unangefochtenen Dominanz der USA abhängt, stellen bereits diese relativ bescheidenen Bestrebungen eine existenzielle Bedrohung dar und sind der Grund für die Turbulenzen der gegenwärtigen Epoche.
Stellt man die Entwicklung Chinas in den Kontext des imperialistischen Systems der postsowjetischen Periode, wird deutlich, dass es keineswegs einen expansiven imperialistischen Kurs verfolgt hat – was zumindest einen Bruch mit der amerikanischen Wirtschaftsordnung erfordert hätte. Tatsächlich sehen wir, dass China trotz seines im Vergleich zur UdSSR weitaus größeren wirtschaftlichen Gewichts eine zurückhaltende, überwiegend auf die Erhaltung des Status quo ausgerichtete Außenpolitik verfolgt hat. Aber selbst wenn wir einen Blick auf Russland werfen, das eine viel konfrontativere Strategie verfolgt, stellen wir fest, dass es nicht aggressiv expandiert, sondern eher auf die Machenschaften der USA an seiner Peripherie und gegenüber seinen Verbündeten (Georgien, Ukraine, Syrien) reagiert hat. Russland hat die USA herausgefordert, aber es strebt nicht nach Weltherrschaft. Unterm Strich ist die Weltpolitik ein Nullsummenspiel. Die Entstehung eines neuen imperialistischen Blocks ist nicht möglich, ohne dem imperialistischen Bündnis, das die Welt seit 1945 beherrscht, eine schwere Niederlage zuzufügen oder es zu zerstören.
4. Friedlicher Imperialismus?
Der erste Fehler, den diejenigen begehen, die behaupten, China sei imperialistisch, ist die Annahme, dass eine neue imperialistische Weltmacht mit völlig friedlichen Mitteln entstehen könnte. Ob es sich nun um das Römische Reich der Antike oder um das von Lenin beschriebene moderne imperialistische System handelt, Imperialismus erfordert militärischen Zwang. Die Tatsache, dass Militarismus das Ergebnis wirtschaftlicher Beziehungen ist, macht ihn keineswegs zu einem optionalen Merkmal. Ausbeutung kann nur mit Gewalt durchgesetzt werden.
Die entscheidende Bedeutung militärischer Macht wurde in den letzten drei Jahrzehnten durch die überwältigende militärische Überlegenheit der USA etwas kaschiert. Die unangefochtene amerikanische Macht schuf die Voraussetzungen für eine stark vereinheitlichte Weltwirtschaft, die auf den ersten Blick weitgehend mit friedlichen Mitteln zu funktionieren scheint. Milliardäre aus Saudi-Arabien, Deutschland oder Indien können ihr Geld im Ausland anlegen, ohne befürchten zu müssen, dass ihr Eigentum beschlagnahmt wird oder ihre Kredite gekündigt werden. Der Grund dafür ist, dass das US-Militär als Vollstrecker des gesamten modernen imperialistischen Systems fungiert. Als Gegenleistung für den Dienst, den Kapitalisten auf der ganzen Welt private Eigentumsrechte zu garantieren, schöpfen die USA durch den US-Dollar und ihre Kontrolle über die wichtigsten Zentren und Institutionen des Weltfinanzkapitals einen unverhältnismäßig großen Anteil des Mehrwerts ab.
Es ist entscheidend zu verstehen, dass die Stabilität der Weltwirtschaft bis heute vom US-Militär abhängt. Es verfügt über mindestens 750 Stützpunkte in 80 Ländern. Die USA und ihre Verbündeten kontrollieren alle wichtigen maritimen Nadelöhre: den Panama- und den Suezkanal, die Meerengen von Malakka, Gibraltar und Hormus. Chinas Seemacht wächst, aber der Pazifik ist nach wie vor ein amerikanischer Teich, genau wie der Atlantik, der Indische Ozean und das Mittelmeer. Seit 1945 hat das US-Militär in mehr als 200 Konflikte im Ausland interveniert. Für sich genommen erscheinen viele dieser Interventionen weder wirtschaftlich noch strategisch sinnvoll. Sie müssen als Demonstration amerikanischer Macht gesehen werden, die dazu dient, im internationalen System als Ganzem den Frieden zu erhalten.
Wir haben bereits gesehen, dass Chinas wirtschaftliche Entwicklung vollständig innerhalb der zentralen Institutionen des imperialistischen Systems der USA stattgefunden hat. Selbst wenn China kapitalistisch wäre, müsste es, um imperialistisch zu werden, mit dem amerikanischen System brechen und seine globalen wirtschaftlichen Interessen durch seine eigene Militärmacht und seine eigenen Institutionen sichern. Schon ein kurzer Blick auf die Weltlage zeigt, dass China keine ernsthaften Schritte in diese Richtung unternommen hat. Tatsächlich ist China die einzige bedeutende Militärmacht, die in den letzten 40 Jahren nicht im Ausland interveniert hat (UN-Friedenstruppen zählen nicht).
Bis heute stützt sich China bei Investitionen und Krediten im Ausland in allererster Linie auf die Institutionen der US-Herrschaft und nicht auf seine eigene Militärmacht. Ohne dieses wesentliche Attribut kann man China nicht als imperialistische Macht betrachten. Das Gegenteil zu behaupten hieße, den Imperialismus als pazifistisch darzustellen. Es würde bedeuten, dass Länder auf der ganzen Welt akzeptieren, aus rein kommerziellen Gründen überausgebeutet zu werden und dass die Welt bereits völlig friedlich unter den Großmächten neu aufgeteilt worden ist.
Was ist mit Ländern wie Deutschland und Japan? Auch sie sind vom US-Militär abhängig. Bedeutet das, dass sie nicht imperialistisch sind? Nein, keineswegs. Deutschland und Japan haben beide versucht, den USA die Vorherrschaft streitig zu machen – mit katastrophalen Folgen –, und sind seit ihrer Niederlage Partner im amerikanischen System. Beide nehmen dank ihres Bündnisses mit den USA eine privilegierte Stellung in der Weltwirtschaft ein. Anders als China, das trotz der tiefen wirtschaftlichen Integration der letzten Jahrzehnte immer ein Außenseiter geblieben ist.
5. Welche Länder unterdrückt China?
Natürlich gibt es keinen Imperialismus ohne die Unterdrückung fremder Länder. Das wirft die Frage auf: Welche Länder unterdrückt China? Es besteht kein Zweifel, dass das politische Regime in China seine eigene Bevölkerung unterdrückt. Es ist auch klar, dass China nationale Minderheiten innerhalb seiner eigenen Grenzen unterdrückt. Aber wenn das alles wäre, was nötig ist, um imperialistisch zu sein, dann würden der Irak und Sri Lanka in diese Kategorie fallen. Die meisten Länder unterdrücken nationale Minderheiten innerhalb ihrer eigenen Grenzen, und alle Länder werden zum Nachteil ihrer Bevölkerung regiert. Das macht sie nicht imperialistisch.
„Aber was ist mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße“ schreien ISA & Co. „Ist das nicht ein ausbeuterisches imperialistisches Projekt?“ Es stimmt, dass China in Ländern Afrikas und Asiens Milliarden (von US-Dollar) in den Aufbau von Infrastruktur investiert und ihnen dabei Schulden aufgebürdet hat. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass China bei diesen Investitionen nicht von den Interessen der Arbeiter ausgeht. Es hat Gewerkschaftsrechte angegriffen, Beamte bestochen, lokale Stimmungen missachtet und alle möglichen reaktionären Regime unterstützt. Die Frage ist jedoch nicht, ob Chinas Handlungen wohltätig sind, sondern ob Projekte wie die Neue Seidenstraße China in einen imperialistischen Unterdrücker verwandelt haben. Setzt China in den Ländern, in denen es massiv investiert hat, seinen Willen mit Gewalt durch?
Schauen wir uns Sri Lanka an, das Paradebeispiel für die chinesische „Schuldenfallen-Diplomatie“. Sri Lanka war bekanntlich nicht in der Lage, die Zinsen für die chinesischen Kredite zu zahlen, die es für den Bau eines neuen Hafens aufgenommen hatte, und verpachtete ihn für 99 Jahre an China. Aber beherrscht China Sri Lanka? Nein. Als das Land 2022 nicht in der Lage war, seine ausländischen Gläubiger (in US-Dollar) zu bezahlen, war es nicht China, das die Bedingungen diktierte. Wie immer war es der IWF, und die Verhandlungen mit den Gläubigern fanden in Washington statt, nicht in Beijing. Selbst westliche Beobachter mussten zugeben, dass die Schuldenkrise Sri Lankas nicht auf chinesische Kredite zurückzuführen war.
Was ist mit Pakistan? 2017 gab die Revolutionary Communist International Tendency (RCIT) eine Erklärung heraus, in der sie verkündete: „Der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor ist ein Projekt des chinesischen Imperialismus zur Kolonialisierung Pakistans!“ Die ISA wiederum behauptet, Pakistan sei Teil des imperialistischen Blocks Chinas gegen die USA („ ‚China’s Rise‘ – An Outdated View“ [‚Chinas Aufstieg‘ – eine überholte Vorstellung], chinaworker.info, 24. April 2024). Jeder, der auch nur Grundkenntnisse über Pakistan hat, weiß, dass das völliger Unsinn ist. China unterhält zwar enge Beziehungen zu Pakistan, aber die USA haben das Sagen. Das zeigte sich erst kürzlich, 2022, in aller Deutlichkeit, als die USA mit der pakistanischen Militärelite konspirierten, um Präsident Imran Khan aus dem Amt zu jagen und ins Gefängnis zu werfen. China hat daraufhin nichts unternommen.
Die Behauptungen über einen „chinesischen Imperialismus“ sind wohl am groteskesten, wenn es um Afrika geht. Die westlichen Mächte haben Afrika jahrhundertelang unterdrückt und den Kontinent in einem Zustand des Elends und der Konflikte gehalten. Französische und amerikanische Militärbasen gibt es überall auf dem Kontinent, nicht etwa chinesische Außenposten (Chinas einzige ausländische Basis befindet sich in Dschibuti). Frankreich hält die Hälfte der Devisenreserven und kontrolliert die Währungen von mehr als einem Dutzend afrikanischer Länder. Und wie überall geht es auch hier bei Schuldenkrisen um Zahlungen in Dollar und Euro, nicht Renminbi.
Noch einmal: Das soll nicht heißen, dass China in Afrika eine wohltätige Rolle spielt. Weit gefehlt. Es geht einfach darum, dass China keinem Land in Afrika seinen Willen aufzwingt. Nicht China verwüstete Libyen, Somalia, Mali, Niger, Tschad und so viele andere Länder. In all diesen Fällen sind die westlichen Imperialisten verantwortlich.
Damit kommen wir zum Süd- und Ostchinesischen Meer. Möchte China den Pazifik in einen chinesischen Teich verwandeln? Wir denken das nicht. Aber selbst wenn China das wollte, wäre es deshalb nicht imperialistisch. Man muss konkret fragen: Wie ist die derzeitige Situation? Seit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg sind die USA die Herren des Pazifiks. Man braucht nur einen Blick auf die Landkarte zu werfen, um zu sehen, dass China vollständig von amerikanischen Verbündeten umgeben ist, von denen die meisten amerikanische Truppen auf ihrem Boden willkommen heißen. Die Philippinen, Südkorea, Indonesien, Taiwan: Kein einziges dieser Länder wird von China unterdrückt, alle werden von den Amerikanern beherrscht.
Dies war kein friedlicher und allmählicher Prozess. Durchgesetzt wurde die US-Vorherrschaft mit den Brandbomben auf Tokio, dem Holocaust von Hiroshima und Nagasaki, dem Koreakrieg, dem Abschlachten der indonesischen Kommunisten und zahllosen anderen Verbrechen. Die Apologeten des westlichen Imperialismus schreien Zeter und Mordio über Chinas militärische Aufrüstung in der Region. Aber wen hat China überfallen? Man muss sich nur die Fakten objektiv ansehen, um zu erkennen, dass das Geschrei über einen chinesischen Imperialismus im Pazifik nichts anderes ist als eine krasse Kapitulation vor dem Status quo der US-Herrschaft.
Der Fall Taiwans wiederum ist ziemlich einzigartig. Historisch war es ein Teil Chinas. Nach der Revolution von 1949 wurde es zum Zufluchtsort für die chinesische Kapitalistenklasse. Seitdem bauten die Amerikaner Taiwan bewusst als Brückenkopf auf, um China erneut unter imperialistische Herrschaft zu bringen. Es stimmt, dass die meisten Menschen auf der Insel heute keine Wiedervereinigung mit China wünschen. Das liegt zum großen Teil daran, dass die KPCh dort nur Unterdrückung und die Aufrechterhaltung des Kapitalismus anbietet. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es beim Taiwankonflikt um die imperialistische Vorherrschaft der USA und Japans in Asien geht. Diese Vorherrschaft ist der Grund für die Abtrennung Taiwans vom Festland. Ein Krieg um Taiwan wäre ein Krieg zur Vollendung der Revolution von 1949, kein imperialer Eroberungskrieg Chinas.
6. Politische Konsequenzen
Das Gezeter über einen chinesischen und russischen Imperialismus dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass es die kleine Gruppe von Mächten unter Führung der USA ist, die den gesamten Planeten unterdrückt. Weder China noch Russland unterdrücken Nationen außerhalb ihrer unmittelbaren Grenzen oder Peripherie. In Wirklichkeit werden sie selbst seit Jahrzehnten vom westlichen Imperialismus belagert.
Ausgangspunkt für eine revolutionäre Strategie und die Vereinigung des Proletariats in Ostasien und Osteuropa muss es sein, den US-Imperialismus aus der Region rauszuwerfen. Bedeutet das, dass es notwendig ist, die KPCh oder den Kreml zu unterstützen? Nein, natürlich nicht. Ihre reaktionäre Politik untergräbt den Kampf gegen den Imperialismus auf Schritt und Tritt. Zum Beispiel behindert die Unterdrückung der Ukrainer und Uiguren durch die russische und die chinesische Regierung die Einheit der Arbeiter gegen die USA und ihre Verbündeten. Anerkennung ihrer nationalen Rechte würde den Kampf gegen die Mächte stärken, die Ostasien, Osteuropa und die ganze Welt unterdrücken.
Aber würde ein Sieg Russlands oder Chinas in einem Krieg gegen die USA nicht bedeuten, dass sie deren Platz an der Spitze des imperialistischen Weltsystems einnehmen? Es hängt alles von den konkreten Umständen ab, unter denen dieser Sieg errungen wird. Die Aufgabe von Kommunisten besteht gerade darin, dafür zu kämpfen, dass der Zusammenbruch der US-Ordnung zu revolutionären internationalistischen Bedingungen erfolgt, die für die Arbeiterklasse günstig sind. Um diesen Kampf zu entwickeln, ist es notwendig, sich in jeder Phase aktiv zu beteiligen. Es wäre das schlimmste Verbrechen, nicht für die Niederlage der USA zu kämpfen, der Macht, die heute die Welt unterdrückt, aus Angst, dass morgen eine andere Macht der neue Unterdrücker sein könnte.
Im Grunde ist die Anprangerung eines „chinesischen Imperialismus“ nur ein dünnes Feigenblatt für die Weigerung, sich der Vorherrschaft der USA und ihrer Verbündeten entgegenzustellen. Die Hartnäckigkeit dieser Position in der Linken spiegelt die Realität wider, dass es in den mit dem Westen verbündeten Ländern unmöglich ist, von der Gewerkschaftsbürokratie oder liberalen Kreisen als respektabel angesehen zu werden, wenn man China gegen den Imperialismus verteidigt. Auch wenn es für einige radikal klingen mag, die USA und China auf eine Stufe zu stellen, so ist es doch eine Tatsache, dass die USA seit 1945 das gesamte imperialistische System beherrschen, während China keinen Teil der Welt außerhalb seiner eigenen Grenzen beherrscht. Natürlich kann man kein Revolutionär sein, wenn man die Politik der KPCh verteidigt. Aber es ist grober Sozialchauvinismus, den Kampf gegen die Vorherrschaft der USA zu verweigern, indem man das Schreckgespenst des „chinesischen Imperialismus“ heraufbeschwört.
Zweiter Teil: China ist nicht kapitalistisch
1. Marxismus und der Staat
Bei der Diskussion darüber, ob der chinesische Staat kapitalistisch oder immer noch ein Arbeiterstaat ist, ist es wichtig, einen grundlegenden methodischen Ansatz einzuführen. Wie beim Imperialismus endet die Frage für den Großteil der Linken dort, wo sie gerade erst beginnt. Zur Klärung der Frage reicht es dem Lager „China ist kapitalistisch“, auf die Zahl der Milliardäre und multinationalen Unternehmen zu verweisen. Der Gegenseite sind die staatliche Kontrolle über strategische Industrien und das hohe Wirtschaftswachstum Beweis genug dafür, dass China nicht kapitalistisch ist. Auch hier gilt, dass die Frage nicht durch die Betrachtung einzelner Momentaufnahmen verstanden werden kann, sondern in ihrer konkreten historischen Entwicklung betrachtet werden muss.
Die starke Ausbreitung von Kapitalisten und der hohe Anteil verstaatlichter Industrien sind beide für das Verstehen von China entscheidend, aber für sich genommen beweisen sie nichts. Wie Trotzki in „Der Klassencharakter des Sowjetstaats“ (Oktober 1933) darlegte, verstaatlichten die Bolschewiki im ersten Jahr der Russischen Revolution die Industrie nicht; sie blieb in privater Hand unter Arbeiterkontrolle. 1921 führten die Bolschewiki mit der Neuen Ökonomischen Politik wieder Marktbeziehungen in der Landwirtschaft ein, doch bedeutete das keine Rückkehr zum Kapitalismus. Im Übrigen kann die Kapitalistenklasse als Reaktion auf bestimmte Krisen selbst große Teile der Industrie verstaatlichen (z. B. Portugal in den 1970ern). Diese Beispiele zeigen nur, dass die Eigentumsformen als isolierter Faktor nicht ausreichen, um den Klassencharakter eines Landes zu bestimmen.
Der Kernpunkt hier für Marxisten ist der Staat selbst, d. h. die bewaffneten Formationen und die Bürokratie. Welche Klassendiktatur verteidigen sie? Trotz der vielen möglichen politischen Formen, die ein Staat annehmen kann (demokratisch, bonapartistisch, faschistisch usw.), repräsentiert er immer die Herrschaft einer bestimmten Klasse. Lenin fasst Engels zusammen und erklärt:
Lenin betonte, dass die „kleinbürgerliche Demokratie“ nie begreifen wird, „dass der Staat das Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse ist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetzten Klasse) nicht versöhnt werden kann“. Und so ist es bis heute. Jeder Irrtum über den Klassencharakter Chinas und die Zukunftsperspektiven der Volksrepublik (VR) China beruht auf der Zurückweisung dieser von Lenin dargelegten grundlegenden Konzeptionen des Staates.
Der Revisionismus in dieser Frage beginnt bei der KPCh selbst. Maos eigene, in „Über die neue Demokratie“ (1940) skizzierte Konzeption ist die „gemeinsame Diktatur der vom chinesischen Proletariat geführten revolutionären Klassen Chinas“ – was die nationale Bourgeoisie mit einschließen sollte. Dies erwies sich als völlige Illusion. Als Maos Volksbefreiungsarmee (VBA) die nationalistischen Kräfte der Guomindang besiegte, gab es keine „gemeinsame Diktatur“. Die Bourgeoisie floh in ihrer überwältigenden Mehrheit nach Taiwan, und wer das nicht tat, wurde enteignet. Die VR China – eine Diktatur des Proletariats – konnte nicht mit ihrem Antipoden versöhnt werden, eine klare Bestätigung der marxistischen Theorie. Dieselbe Illusion stand jedoch auch hinter Dengs Politik der „Reform und Öffnung“ und wird von der KPCh immer noch aufrechterhalten. Von Deng bis Xi basiert der „Sozialismus chinesischer Prägung“ auf dem Mythos, dass es keinen grundlegenden Konflikt zwischen der Bourgeoisie und dem Sozialismus gibt. Solche Illusionen sind eine tödliche Bedrohung für die VR China.
Denselben Fehler begehen auf andere Weise die verschiedenen Sozialisten, die behaupten, China sei kapitalistisch. Sie gehen nicht wie die KPCh davon aus, dass Kapitalismus und Sozialismus nebeneinander existieren können, sondern argumentieren, dass es einen allmählichen und nahtlosen Übergang von einem Arbeiterstaat nach 1949 zu einem kapitalistischen Staat in den 1990er-Jahren gab. Ihrer Ansicht nach fand dieser Übergang ohne eine Periode akuter Krisen statt, in der die staatliche Struktur der VR China zerschlagen und durch eine neue ersetzt wurde. Mit anderen Worten, sie glauben, dass der gleiche Staatsapparat, die gleiche Bürokratie und das gleiche Regime die Diktatur zweier antagonistischer Klassen verteidigen können. Das ist nur eine andere Art und Weise, den unversöhnlichen Klassenkonflikt, der in der bloßen Existenz des Staates verkörpert ist, aufzuheben. Als Antwort auf genau diese Argumente in Bezug auf die Sowjetunion der 1930er-Jahre erklärte Trotzki:
Um den Klassencharakter Chinas festzustellen, ist das entscheidende Kriterium nicht das Ausmaß, in dem Marktbeziehungen oder Planwirtschaft vorherrschen, obwohl diese sicherlich wichtige Faktoren sind. Vielmehr geht es darum, ob es eine qualitative Veränderung in Wesen und Funktion des Staatsapparates gegeben hat. Diejenigen, die glauben, dass China kapitalistisch sei, müssen entweder argumentieren, dass Trotzki sich geirrt hat und es tatsächlich möglich ist, dass ein Staat seinen Klassencharakter allmählich ändert, oder sie müssen erklären, wann und wie die Konterrevolution in China stattgefunden hat.
2. Konterrevolutionen in Osteuropa und der UdSSR
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Trotzkis theoretischer Argumentation in den 1930er-Jahren und heute besteht darin, dass wir eine Reihe eindeutiger historischer Beispiele für Konterrevolutionen erlebt haben. Die Tatsache, dass der Kapitalismus in den ehemaligen Arbeiterstaaten Europas und in der UdSSR restauriert wurde, ist praktisch unumstritten. Der Prozess verlief in Polen, der DDR, Jugoslawien und der Sowjetunion selbst unterschiedlich, aber jedes einzelne dieser Beispiele bestätigt voll und ganz den „katastrophischen Charakter des Übergangs der Macht aus den Händen einer Klasse in die einer anderen“.
Ohne im Detail darauf einzugehen, wie die Konterrevolution in jedem einzelnen Fall triumphierte, lassen sich einige wesentliche Merkmale erkennen, die allen gemeinsam sind. In allen Fällen führte eine akute politische Krise zum Zusammenbruch des stalinistischen Regimes. Obwohl in einigen Ländern ehemalige Stalinisten in der Lage waren, herausragende oder sogar führende Positionen im Kapitalismus zu behalten, blieb in keinem Fall die ehemalige Kommunistische Partei an der Macht. Außerdem wurde in allen Fällen die Staatsstruktur grundlegend umgestaltet. In Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Ostdeutschland und der Sowjetunion lösten sich die Staaten auf oder wurden liquidiert. Aber auch dort, wo das nicht der Fall war, strukturierte der Staat seine Streitkräfte um und änderte seinen Namen, seine Verfassung und sein Rechtssystem.
Es gibt in Europa keine Roten Armeen oder Volksarmeen mehr. Auf den Nationalflaggen sind – abgesehen von Transnistrien – Hammer und Sichel verschwunden, und auch Sozialistische Republiken und Volksrepubliken gibt es nicht mehr. Manche mögen einwenden, dass solche Namen und Symbole bedeutungslos sind. Doch das ist falsch. Wie eine Eroberungsarmee brachte der Kapitalismus seine Fahnen, seine Symbole, seine Werte und seine Sprache mit. Diese Veränderungen spiegelten das endgültige Zerbrechen der Staatsmacht wider. Sie standen für den entscheidenden Sieg des Kapitalismus über den Stalinismus.
Betrachten wir die wirtschaftliche Seite der Frage. Im Vorfeld der Konterrevolution hatten viele Länder des Ostblocks im Laufe der Jahre Maßnahmen zur Liberalisierung ihrer Wirtschaft ergriffen. Die Rückkehr zum Kapitalismus war jedoch kein allmählicher wirtschaftlicher Übergang, sondern kam in Form eines katastrophischen Schocks. Die alten Wirtschaftsmodelle brachen schlagartig zusammen, und es wurde ein neues Modell eingeführt, in der Regel unter dem Diktat des IWF. Die unmittelbaren Folgen waren Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Rezession.
Einer Studie der Weltbank von 1998 mit dem Titel „Income, Inequality, and Poverty during the Transition from Planned to Market Economy“ [Einkommen, Ungleichheit und Armut beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft] zufolge sank der Gesamtwert der produzierten Waren und Dienstleistungen in den Ländern, die zum Kapitalismus übergingen, real um mindestens ein Viertel. In den meisten Fällen wurden die staatlichen Unternehmen in einer Art von Schlussverkauf liquidiert. Belarus ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Dort wurden die Staatsbetriebe nicht liquidiert, doch der wirtschaftliche Schock war genauso brutal: Das Pro-Kopf-BIP ging um 34 Prozent zurück.
Die sozialen Folgen der kapitalistischen Restauration waren dramatisch. Die Lebenserwartung sank in den meisten Ländern. In Russland stieg die Sterblichkeitsrate so stark wie nie zuvor in einem Industrieland zu Friedenszeiten. Jugoslawien wurde im Bürgerkrieg zerstört. In den ehemals von Kommunistischen Parteien regierten Staaten explodierte die Armut. In der Studie der Weltbank über diese Länder (mit Ausnahme der kriegführenden) heißt es: „Während 1989 die Zahl der Menschen, die mit weniger als 4 Dollar pro Tag (zu internationalen Preisen) auskommen mussten, auf 14 Millionen geschätzt wurde (bei einer Bevölkerung von etwa 360 Millionen), leben heute schätzungsweise mehr als 140 Millionen Menschen unter dieser Armutsgrenze.“
Die Schlussfolgerungen sind eindeutig: Konterrevolution war überall ein brutaler Prozess. Ob auf politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Ebene, der Übergang vom Arbeiterstaat zum Kapitalismus war abrupt und stellte einen klaren Bruch mit der Vergangenheit dar.
3. Reform und Öffnung in China
Wie lassen sich die Konterrevolutionen in Osteuropa und der Sowjetunion mit der Politik von „Reform und Öffnung“ in China vergleichen? Wenn man sich nur auf einzelne Faktoren konzentriert, wie die Anzahl der Privatisierungen und die Ausbreitung von Marktbeziehungen, kann man auf Ähnlichkeiten verweisen. Aber wenn wir einen Schritt zurücktreten und das Gesamtbild betrachten, ist ganz klar, dass beide nichts gemeinsam haben.
Auf der politischen Ebene sind die Unterschiede am deutlichsten. China blieb von den politischen Unruhen, die Ende der 80er-Jahre die nicht-kapitalistischen Länder in Europa und Zentralasien erschütterten, nicht verschont. Das Ergebnis dieser Unruhen war jedoch genau das Gegenteil. Der weitreichende Aufstand von Studenten und Arbeitern, der durch die Tiananmen-Proteste von 1989 ausgelöst wurde, stürzte das KPCh-Regime in eine Krise. Doch anders als die stalinistischen Bürokratien in der DDR, in Polen und in der Sowjetunion brach die KPCh nicht zusammen, sondern schlug die Bewegung in einer blutigen Repressionswelle nieder. Damit festigte die KPCh ihre politische Machtposition. Das Ergebnis der Tiananmen-Ereignisse war politische Kontinuität, nicht Bruch.
Heute sind alle wichtigen staatlichen Institutionen in ihrer Funktionsweise und ihrem Erscheinungsbild im Wesentlichen unverändert. China wird nach wie vor von einer Kommunistischen Partei regiert. Die Streitkräfte sind nach wie vor die VBA, die ihre Kontinuität auf Maos Bauernarmee zurückführt. Die Volksrepublik existiert nach wie vor, das höchste Staatsorgan ist (formell) immer noch der Nationale Volkskongress, und das prestigeträchtigste Amt ist immer noch das des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei. Niemand bestreitet diese Tatsachen – sie werden von denjenigen, die China für kapitalistisch halten, einfach als irrelevant abgetan.
Wie sieht es mit dem wirtschaftlichen und sozialen Bereich aus? Trotzki sagte voraus, dass eine Fortdauer der bürokratischen Herrschaft in der UdSSR, die den Zusammenbruch der proletarischen Diktatur zur Folge haben würde, „zum Stillstand des wirtschaftlichen und kulturellen Wachstums, zu einer furchtbaren sozialen Krise und zur Regression der gesamten Wirtschaft führen“ würde („Der Klassencharakter des Sowjetstaats“). Wir haben bereits gesehen, dass genau dies in Osteuropa und in der Sowjetunion geschehen ist. In China erleben wir jedoch gerade das Gegenteil. In den 1990er-Jahren kam es zur erstaunlichsten Entwicklung der Produktivkräfte in der Geschichte, einer beispiellosen Verringerung der Armut und einer allgemeinen Verbesserung der sozioökonomischen Indikatoren.
Das soll nicht heißen, dass die Marktliberalisierung in China im Interesse der Arbeiterklasse erfolgte. Abgesehen von den schrecklichen Arbeitsbedingungen in den neuen kapitalistischen Betrieben und ausländischen Unternehmen haben breite Schichten der Arbeiterklasse an den Privatisierungen und Marktreformen furchtbar gelitten. Aber im Ganzen gesehen hat die chinesische Wirtschaft einfach nicht denselben zerstörerischen Schock erlitten wie die Länder, in denen eine Konterrevolution stattfand. Der Reformprozess hatte dramatische Folgen, aber er erfolgte schrittweise und so, dass die Gesamtstruktur der Gesellschaft bewahrt wurde.
In Wahrheit zielte „Reform und Öffnung“ nicht darauf ab, den Kapitalismus wiederherzustellen, sondern die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der KPCh das Schicksal anderer stalinistischer Regime erspart blieb. Es lohnt sich, Deng Xiaoping aus der Zeit seiner Reise 1992 in den Süden zu zitieren, die von vielen als der Wendepunkt zur kapitalistischen Restauration hin angesehen wird, um zu sehen, wie die Bürokratie selbst diesen Wandel darstellte:
Es geht nicht darum, inwieweit Dengs Bekenntnis zum Sozialismus der Wahrheit entsprach. Vielmehr sind diese Worte bedeutsam, weil sie einen klaren Wunsch nach Kontinuität erkennen lassen. Es sind nicht die Worte eines Boris Jelzin, der ein neues Gesellschaftsregime aufbauen will, sondern die Worte eines rechten stalinistischen Reformers (wie Bucharin oder Gorbatschow).
Doch wie steht es mit der Ungleichheit in China? Ist sie nicht genauso explodiert wie in Russland und anderen ehemaligen Arbeiterstaaten? Die Ungleichheit ist in der Tat ungeheuerlich, und das zeigt den reaktionären Charakter der Politik der KPCh. Aber man muss sich nur vor Augen führen, dass unter Mao Millionen Menschen verhungerten, um zu erkennen, dass dies nicht neu ist. Noch einmal: Es ist wichtig, tiefer zu blicken als nur auf die Statistik.
In Russland explodierte die Ungleichheit, und vor dem Hintergrund eines allgemeinen sozialen Niedergangs traten Milliardäre auf den Plan. In China vollzog sich dieser Prozess vor dem Hintergrund eines allgemeinen sozialen Fortschritts. Im ersten Fall haben wir es mit einer verrottenden Gesellschaft zu tun, die von ausländischem Kapital und Oligarchen ausgeplündert wird. Im anderen Fall haben wir es mit Kapitalisten und Bürokraten zu tun, die sich einen unverhältnismäßig großen Anteil an einer sich schnell entwickelnden Gesellschaft aneignen. In beiden Fällen steigt der Gini-Koeffizient [Grad der Einkommensungleichheit], aber dies geschieht durch grundlegend unterschiedliche soziale Prozesse – Konterrevolution auf der einen Seite, auf der anderen ein hohes Wachstum, das auf der Verschmelzung von ausländischem Kapital mit wirtschaftlicher Staatskontrolle beruht.
4. Den Film des Reformismus umgekehrt abspulen
Die offensichtliche Tatsache, dass der chinesische Staat und das chinesische Regime im Wesentlichen intakt geblieben sind, müssen die verschiedenen Verfechter der These vom kapitalistischen China entweder ignorieren oder mit Theorie wegdiskutieren. Wir wollen uns zwei Beispiele ansehen, bei denen zumindest versucht wird, das Problem zu lösen.
Die Militant-Tradition
Die Militant-Tendenz war für ihre Auffassung bekannt, der Sozialismus könne durch eine parlamentarische Mehrheit von Sozialisten erreicht werden, die friedlich die Kontrolle über den kapitalistischen Staat übernehmen. Es ist kein Zufall, dass ihre verschiedenen Nachfolger zu den lautstärksten Verfechtern der Ansicht gehören, China sei kapitalistisch.
Vor dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa weitete das Committee for a Workers’ International (CWI), ausgehend von den Theorien von Ted Grant, sein reformistisches Programm auf deformierte Arbeiterstaaten aus. In einem Dokument des Internationalen Exekutivkomitees des CWI von 1992 heißt es, in dieser Periode entstanden „eigentümliche Hybridstaaten, in denen konterrevolutionäre Regierungen bei ihren Maßnahmen zur Errichtung des Kapitalismus sich auf die vom Arbeiterstaat geerbten wirtschaftlichen Grundlagen stützten“, und „unter solchen Bedingungen ist es nicht immer möglich, eine feste soziale Kategorie anzuwenden: kapitalistischer Staat oder Arbeiterstaat“ („The Collapse of Stalinism“ [Der Zusammenbruch des Stalinismus]). Vorbei ist es mit Lenins „Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze“, es kommen die porösen „Hybridstaaten“.
Das konkrete Ergebnis dieser revisionistischen Theorie war, dass sich das CWI aktiv an den Barrikaden beteiligte, die Jelzin errichtete, um die UdSSR zu Fall zu bringen. Das CWI leugnete, dass eine Konterrevolution überhaupt notwendig war, und beteiligte sich schließlich an einer. Denn wenn Russland vor 1991 kein Arbeiterstaat mehr war, dann gab es auch nichts zu verteidigen. Die katastrophalen Folgen der Zerstörung der Sowjetunion zeigen deutlich den vollständigen Bankrott dieser Sichtweise und den historischen Verrat, den sie darstellte.
Anstatt aus diesem Versagen zu lernen, haben das CWI und seine Ableger dieselbe Methodik auf das heutige China übertragen. In der Broschüre Is China Capitalist? [Ist China kapitalistisch?] (Mai 2000) verwendet Laurence Coates von der ISA den Begriff „hybrider Staat“, um zu argumentieren, dass China allmählich zum Kapitalismus übergegangen sei:
Wie wir bereits gesehen haben, war das Ergebnis von Tiananmen politische Kontinuität und kein Bruch. Und der internationale Kontext ist von größter Bedeutung. Aber der Charakter eines Staates ändert sich nicht aufgrund von Ereignissen, die in einem anderen Land stattfinden. Die Geschicke des russischen Bürgerkriegs wurden zu einem großen Teil von internationalen Ereignissen bestimmt, aber der Charakter des Staates änderte sich mit der Machtergreifung der Bolschewiki. Genau solche entscheidenden Wendepunkte wischt Coates weg. Anstelle des Staates als Beweis für unversöhnliche Klasseninteressen finden wir eine gleitende Skala von Staatsformen, die allmählich von einer Stufe zur anderen übergehen können, wobei das gesamte Regime und die Staatsstruktur intakt bleiben und es zu keinem entscheidenden Zusammenstoß von Klasseninteressen kommt. Dies ist einfach der alte parlamentarische Reformismus von Militant, angewandt auf China.
RCIT
Die RCIT, die einer anderen politischen Tradition entstammt, befasst sich zumindest ein wenig mit der Frage der politischen Macht. Ihr zufolge findet eine kapitalistische Konterrevolution statt, „wenn eine Arbeiterregierung der stalinistischen Bürokratie durch eine Regierung der bürgerlichen Restauration ersetzt wird oder sich in eine solche verwandelt“, die „sowohl in Worten als auch in Taten fest entschlossen ist, eine kapitalistische Produktionsweise wiederherzustellen“ (Cuba’s Revolution Sold Out? [Wurde Kubas Revolution ausverkauft?], 2013).
Wir haben bereits gesehen, dass weder Xi noch Deng jemals „fest entschlossen“ waren, den Kapitalismus wiederherzustellen. Wichtiger ist jedoch die Behauptung der RCIT, dass eine „Arbeiterregierung der stalinistischen Bürokratie“ sich in eine „Regierung der bürgerlichen Restauration“ verwandeln kann. Wie ist das möglich? Für die RCIT deshalb, weil sie glaubt, dass die Instrumente der staatlichen Repression in deformierten Arbeiterstaaten de facto bereits bürgerlich sind. Sie argumentiert:
Es ist zwar richtig, dass die stalinistische Bürokratie einen kleinbürgerlichen Charakter hat, aber es ist absolut falsch zu sagen, dass die von ihr befehligte Staatsmaschine „kein proletarisches Instrument“ ist. Diese revisionistische Auffassung läuft darauf hinaus, die Definition eines Arbeiterstaates an sich abzulehnen. In Staat und Revolution erklärte Lenin:
Die „Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht“ der Diktatur des Proletariats in China sind „das stehende Heer und die Polizei“, genau wie bei jeder anderen Klassendiktatur – der Sklavenhalter, der Feudalherren oder der Kapitalisten. In einem bürokratisch deformierten Arbeiterstaat werden diese „Formationen bewaffneter Menschen“ von der Bürokratie gegen die politischen Interessen der Arbeiterklasse eingesetzt, aber sie bleiben Organe eines Arbeiterstaates.
In China wird die VBA seit der Zeit des Bürgerkriegs zur Unterdrückung von linker Opposition eingesetzt – was sich 1989 deutlich zeigte. Aber die VBA hatte den kapitalistischen Staat Chinas zerstört und die Diktatur des Proletariats errichtet. Blieb die VBA ein kleinbürgerliches Organ? War die VR China ein kleinbürgerlicher Staat? Nein, seit 1949 ist die VBA das wichtigste Organ der proletarischen Macht gegen innere und äußere Konterrevolution. Es ist der VBA zu verdanken, dass die chinesische Bourgeoisie in Taiwan nie auf das Festland übersetzen konnte.
Wie Trotzki erklärte, ist in einem deformierten Arbeiterstaat die Beziehung zwischen Staat und Bürokratie analog zu der Beziehung zwischen einer Gewerkschaft und pro-kapitalistischen Bürokraten. Obwohl diese Bürokratie den Gewerkschaftsapparat zur Unterdrückung der Unzufriedenheit der Mitgliedschaft benutzen kann und „der Bourgeoisie näher steht als der Arbeiterklasse“, bleibt die Gewerkschaft selbst eine Institution der Arbeiterklasse und stellt durch ihre bloße Existenz einen Schutzwall gegen die Bosse dar. Damit ein Gewerkschaftsbürokrat vollends zu einem unbestrittenen Vertreter der Kapitalisten werden kann, muss er mit der Gewerkschaft brechen. Ebenso kann eine stalinistische Regierung nicht zu einer „kapitalistischen Regierung“ werden, ohne die Verbindung zu den Staatsorganen der Revolution zu brechen.
Genau diese Verbindung wurde 1991 in der UdSSR zerbrochen. Jelzin zerstörte den Arbeiterstaat und damit die Machtquelle der Bürokratie – und die Bürokratie selbst als herrschende Kaste. Dem ist die Bürokratie in China bewusst aus dem Weg gegangen, hat die staatlichen Repressionsorgane fest im Griff behalten und sich dadurch als einheitliche Gruppierung erhalten. Die „Theorie“ der RCIT über den Staat erfüllt nur den Zweck, den qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden Beispielen wegzuwischen. Demnach ist ein nahtloser Übergang von einer Klassendiktatur zur anderen möglich – wobei die stalinistische Bürokratie intakt bleibt –, denn Polizei und Armee waren schon immer bestenfalls Organe der Kleinbourgeoisie. Dies ist eine Absage nicht nur an den Trotzkismus, sondern auch an den elementaren Leninismus in der Frage des Staates.
Der Logik ihrer Theorie folgend, erklärt die RCIT nicht nur China und Vietnam für kapitalistisch, sondern sogar Länder wie Kuba und Nordkorea! Weil es für die RCIT eine Konterrevolution nicht braucht, entdeckt sie überall schon den Kapitalismus, sogar in Ländern, deren Wirtschaft und Regime offensichtlich ein typisch stalinistisches Vorbild haben.
5. Wer herrscht über China?
Zweifellos wird die Bekräftigung marxistischer Grundprinzipien über den Staat unsere Kritiker nicht überzeugen. Sie werden entgegnen, dass die Fakten solchen theoretischen Erwägungen widersprechen. Schließlich gibt es in China 814 Milliardäre und viele der größten kapitalistischen Unternehmen der Welt, und selbst die Staatsunternehmen arbeiten nach marktwirtschaftlichen Prinzipien.
Dies sind sicherlich wichtige Fakten, aber um sie richtig interpretieren zu können, müssen sie in ein korrektes Verständnis der historischen Gesetzmäßigkeiten eingeordnet werden, die die Entwicklung Chinas bestimmen. Der Mensch hat die Wissenschaft des Fliegens gemeistert; dies setzt die Gesetze der Schwerkraft nicht außer Kraft. Tatsächlich ist es nur durch das Verständnis dieser Gesetze möglich zu erklären, wie ein Flugzeug abheben kann. China ist ein deformierter Arbeiterstaat, in dem es Kapitalisten gibt. Dies ist eine höchst widersprüchliche Entwicklung, die jedoch die marxistische Staatstheorie nicht außer Kraft setzt. Vielmehr können wir nur mit der marxistischen Theorie das empirische Beweismaterial richtig einordnen und die Frage beantworten, wer China wirklich regiert.
Wir haben bereits den Wert von Theorien gesehen, die von einer allmählichen Veränderung des Klassencharakters Chinas ausgehen. Aber die meisten, die denken, dass China kapitalistisch sei, legen ihr Augenmerk weniger auf das theoretische Problem als vielmehr auf eine impressionistische Interpretation der empirischen Fakten. So behauptet die RKI [Revolutionäre Kommunistische Internationale, in Deutschland früher Der Funke] in einer kürzlich erschienenen Polemik gegen zwei Verfechter des KPCh-Sozialismus:
Zur Untermauerung dieser Position verweist die RKI auf die Tatsache, dass die von der KPCh nach der großen Finanzkrise von 2008 ergriffenen Wirtschaftsmaßnahmen langfristige Ungleichgewichte in der chinesischen Wirtschaft begünstigt haben. Dies ist zwar richtig, beweist aber nur, dass die Politik der KPCh verfehlt ist, nicht aber, dass die KPCh vom Markt beherrscht wird und, in den Worten der RKI, „die Kontrolle über die Wirtschaft und ihre eigenen Staatsunternehmen verloren hat“. Tatsächlich beweist 2008 genau das Gegenteil. In The Party (2010) erklärt Richard McGregor:
Der Autor führt weiter aus, dass sich die Banken in China völlig anders verhielten als im Westen, wo die Regierungen in dieser Zeit die Banken zwar effektiv kontrollierten, sie aber nicht zwingen konnten, Geld zu verleihen. Grundsätzlich hat die Finanzkrise von 2008 gezeigt, dass die beiden Gesellschaftssysteme unterschiedlich reagiert haben. Im kapitalistischen Westen, wo der Markt dominiert, griff der Staat ein, um das Finanzsystem vor dem Ruin zu bewahren und Rentabilität und Stabilität zu gewährleisten. In China, wo die KPCh die Wirtschaft kontrolliert, intervenierte der Staat, um die Stabilität des Regimes zu sichern. Dabei handelte er im Widerspruch zu den Rentabilitätsprinzipien, die die Banken ein Jahrzehnt lang etabliert hatten.
Das erwähnt die RKI nicht. Sie stellt fest, dass es nach 2008 eine Spekulationsblase gab, und schließt daraus, dass China kapitalistisch ist und die KPCh „die Kontrolle verloren“ hat. Aber noch einmal: Schauen wir uns die Frage genauer an. Wie reagierte die KPCh auf die Spekulationsblase? Im Jahr 2020 führte sie die Verordnung der „drei roten Linien“ ein, die speziell darauf abzielte, die Immobilienblase platzen zu lassen. Dies führte zur Insolvenz des Immobilienriesen Evergrande und stürzte den gesamten Sektor in eine Depression. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Vorgehens der KPCh waren verheerend, nicht zuletzt für die chinesischen Bürger, die nie die Wohnungen bekommen werden, für die sie bezahlt haben. Das Beispiel zeigt, dass die KPCh in typisch stalinistischer Manier im Zickzackkurs von einem Extrem ins andere taumelt. Aber es zeigt keineswegs, dass die KPCh dem Markt hilflos ausgeliefert ist.
Dieses Vorgehen zeigt einmal mehr den Unterschied zwischen der KPCh und der US-Regierung. Im ersten Fall ließ der Staat selbst die Spekulationsblase platzen, um eine scharfe Krise zu vermeiden, die zu politischer Instabilität hätte führen können. Im Fall der USA hat die Regierung alles getan, um die Immobilienblase so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, und tut heute das Gleiche mit dem Aktienmarkt. Das sind alles Tatsachen. Aber sie richtig zu interpretieren ist nicht möglich, wenn man nicht versteht, dass beide Staaten nach grundverschiedenen Gesetzen handeln.
Chinas Wirtschaft ist unter anderem deshalb so schwer zu verstehen, weil die KPCh jahrzehntelang hart daran gearbeitet hat, dem Land den Anschein einer Marktwirtschaft zu geben, um ausländische Investitionen anzuziehen und die eigene Arbeiterschaft zu disziplinieren. Sie hat Staatsunternehmen teilprivatisiert, ihnen „unabhängige“ Vorstände gegeben, Privatkapitalisten Multimilliarden-Dollar-Unternehmen aufbauen lassen und so weiter. Doch hinter dieser Liberalisierung behielt die KPCh sowohl öffentliche als auch private Unternehmen eisern im Griff. Angesichts dessen ist es irreführend, nur darauf zu achten, ob ein Unternehmen formal privat oder öffentlich ist. Unterm Strich müssen sie alle den politischen Vorgaben der KPCh entsprechen. Diese politische Kontrolle wird durch Institutionen wie die Zentrale Organisationsabteilung (ZOA) gewährleistet, die praktisch alle wichtigen Positionen im Land direkt besetzt. McGregor zieht folgenden Vergleich:
Die durch die KPCh ausgeübte Kontrolle wird nicht diktiert vom Profitmotiv, sondern steht zu seinen Grundregeln in direktem Widerspruch. So beschloss zum Beispiel 2004 die ZOA ohne Vorwarnung, das Management der drei größten chinesischen Telekommunikationsunternehmen, die miteinander konkurrieren und den Regeln der westlichen Aktienmärkte folgen sollten, umzubesetzen. Die Rotation von Spitzenmanagern zwischen konkurrierenden Unternehmen verstößt gegen die grundlegendsten Gesetze des kapitalistischen Wettbewerbs. Das ist so, als ob die US-Regierung beschlossen hätte, Zuckerberg zum Chef von Tesla und Musk zum Chef von Meta zu machen. Die KPCh bediente sich eines solchen Manövers, um Preiskämpfe einzudämmen und ihre Autorität durchzusetzen. In welchem kapitalistischen Land macht man so etwas? Sieht das wirklich nach einem Diktat des Marktes gegenüber dem Staat aus?
Trotz aller Statistiken, die man vorlegen kann, um das Vorherrschen kapitalistischer Verhältnisse in China zu belegen, ist es eine grundlegende Tatsache, dass die Kapitalistenklasse nicht die Staatsmacht innehat. Die KPCh hat das Sagen. Die enorme Zunahme kapitalistischer Verhältnisse in China ist Ergebnis der Zusammenarbeit der KPCh mit Kapitalisten in den letzten Jahrzehnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Interessen der KPCh mit denen der Kapitalistenklasse identisch sind oder dass ihre Politik in erster Linie von kapitalistischen Interessen geleitet wird. Ganz im Gegenteil. Die Bürokratie der Kommunistischen Partei nimmt nach wie vor eine Zwischenstellung ein und manövriert zwischen dem Druck des (in- und ausländischen) Kapitals und der Arbeiterklasse. Um ihre Position zu behaupten, muss sie den Staatsapparat gegen diese beiden Pole einsetzen.
6. Bonapartismus
Das Standardargument lautet, dass sich der Zwang, den die KPCh auf die Kapitalisten in China ausübt, überhaupt nicht von dem anderer bonapartistischer Regime unterscheidet. 2017 beschlagnahmte der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) den Besitz Hunderter saudischer Kapitalisten (zumeist Verwandter) und erpresste Milliarden von ihnen. 2003 sorgte der russische Präsident Putin dafür, dass sein Rivale Michail Chodorkowski, damals der reichste Mann Russlands, wegen Betrugs und Veruntreuung in Sibirien inhaftiert wurde. Wie unterscheiden sich diese Fälle von denen, in denen die KPCh regelmäßig Kapitalisten verschwinden lässt, oder von einigen der oben genannten Beispiele? Um den Unterschied zu verstehen, muss man die einzelnen Regime und ihr Verhältnis zur einheimischen Kapitalistenklasse genau betrachten.
Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie, die seit dem Zweiten Weltkrieg auf ihr Militärbündnis mit den USA angewiesen ist, um sich als Bollwerk der Reaktion im Nahen Osten zu behaupten. In Saudi-Arabien ist die königliche Familie im Wesentlichen auch die Kapitalistenklasse. Der berühmte Vorfall von 2017 war eine mittelalterliche, in die moderne Welt übertragene dynastische Fehde. Zweck der Erpressung der eigenen Familie durch MBS war hauptsächlich, seinen dynastischen Anspruch durchzusetzen, ein „normales“ Vorgehen, das sich aus dem feudalen Charakter der saudischen Kapitalistenklasse ergibt. In Russland kam Putin vor dem Hintergrund anarchischer und gewalttätiger Fehden zwischen Gangsteroligarchen an die Macht. Der bonapartistische Charakter seiner Regierung spiegelte die Notwendigkeit eines Schiedsrichters wider, der die Spannungen im nach-konterrevolutionären Russland zügeln konnte. Dabei musste er seine Autorität gegenüber einzelnen Oligarchen durchsetzen, die aus der Reihe tanzten.
In beiden Fällen dienten die bonapartistischen Repressionsmaßnahmen dazu, die Stabilität der kapitalistischen Regime aufrechtzuerhalten. Der Bonapartismus des chinesischen Regimes ist von ganz anderer Art. Nach 1949 beruhte die Macht der KPCh auf der bürokratischen Kontrolle über einen Arbeiterstaat, der die Kapitalistenklasse zerschlagen hatte. Da die KPCh ein revolutionäres internationalistisches Programm ablehnte, befand sie sich permanent in der Zwickmühle zwischen dem rückständigen Charakter der Wirtschaft, den wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft und dem feindlichen Druck des Weltimperialismus. Als der Stalinismus in den 90er-Jahren ringsum zusammenbrach, zog es die KPCh vor, sich stärker danach zu richten, woher der Wind weht: nach den Kapitalisten. Der globale und nationale Kontext änderte sich, nicht aber das Regime selbst.
Der bonapartistische Charakter der KPCh leitet sich grundlegend immer noch von denselben Klassenkräften ab. Anders als in Saudi-Arabien und Russland ist die Kapitalistenklasse in China nicht die Basis des Regimes, sondern ein Rivale. Dies gilt trotz der Tatsache, dass viele Kapitalisten der KPCh angehören oder mit Spitzenbürokraten verwandt sind. Klassengegensätze lassen sich nicht durch Heirat und Titel überwinden, eine Lektion, die die französische Aristokratie auf die harte Tour gelernt hat.
Trotz des bonapartistischen Charakters ihrer Regime können weder MBS noch Putin oder Xi die gesellschaftlichen Interessen überwinden, auf denen ihre Macht beruht: dynastische Interessen für die saudische Monarchie, oligarchische für Putin und bürokratische für Xi. Im Falle der beiden erstgenannten stützt sich die Macht der herrschenden Schichten auf die Kapitalistenklasse. Ein Angriff auf die grundlegenden Interessen der Kapitalisten würde dem Charakter des Regimes selbst zuwiderlaufen. Das ist bei der KPCh nicht der Fall. Sie könnte unter genügend äußerem und innerem Druck die Kapitalistenklasse enteignen. Natürlich wäre dies mit enormen Turbulenzen verbunden, und das ist nicht im Sinne der KPCh. Aber vergessen wir nicht: Sie hat es schon einmal getan, und vor 1949 wollte Mao die Kapitalisten auch nicht liquidieren.
Die unterschiedliche Klassenbasis dieser drei Regime wird noch deutlicher, wenn man sich das Verhalten der Kapitalisten ihnen gegenüber ansieht. Trotz der Tyrannei von MBS strömen Millionäre und Milliardäre nach Saudi-Arabien wie die Motten zum Licht. In Russland haben der Ausbruch des Krieges in der Ukraine und die Sanktionen des Westens zur Abwanderung einer beträchtlichen Zahl von Wohlhabenden geführt. Doch im Großen und Ganzen haben sich die Oligarchen um das Regime geschart. Seit 2022 haben Milliardäre mindestens 50 Milliarden Dollar an Auslandsvermögen nach Russland zurückgeholt. Der Grund dafür ist, dass das Regime angesichts der Feindseligkeit des Westens eine zuverlässige Stütze ist.
In China ist es genau umgekehrt. Die Kapitalisten fürchten das Regime mehr als den Westen, wohin sie in Scharen auswandern, wenn ihnen die Möglichkeit dazu gegeben wird. Jedes Jahr steht China ganz oben auf der Liste der Länder, die Kapitalisten verlassen, obwohl das Regime diese Auswanderung streng begrenzt. Nach Angaben der Unternehmensberatung Henley & Partners hat die Zahl der Hochvermögenden, die China verlassen, seit dem Ende der Pandemie jedes Jahr zugenommen und hat 2024 bisher einen neuen Rekordwert von 15 200 erreicht. In Mao and Markets [Mao und Märkte] (2022) behaupten Christopher Marquis und Kunyuan Qiao, dass „mehr als ein Viertel der chinesischen Unternehmer das Land verlassen haben, seit sie reich geworden sind, und Berichte deuten darauf hin, dass fast die Hälfte der Verbliebenen darüber nachdenkt, dies zu tun“. Warum sollte das der Fall sein, wenn die KPCh grundsätzlich der Verteidigung der Interessen der Kapitalisten in China verpflichtet ist? Warum fürchten die Kapitalisten in anderen Diktaturen ihre Regierung nicht ebenso?
7. Eigentumsrechte
Das ultimative Argument der „Trotzkisten“, die China für kapitalistisch halten, ist, dass sich die Bürokratie in eine Kapitalistenklasse verwandelt hat. Mit Zitaten aus Verratene Revolution (1936) berufen sie sich triumphierend auf Trotzkis Aussage:
Da KPCh-Funktionäre und ihre Verwandten Aktien besitzen, folgern unsere Kritiker, dass sich die Bürokratie in eine Kapitalistenklasse verwandelt hat. Dies mag oberflächlich betrachtet so aussehen, aber so einfach verhält es sich mit den Eigentumsrechten nicht.
In der abgeänderten Verfassung der Volksrepublik China heißt es: „Das gesetzmäßige private Eigentum der Bürger ist unverletzlich. Der Staat schützt, in Übereinstimmung mit dem Gesetz, die Rechte der Bürger auf privates Eigentum und Erbschaft.“ Damit ist die Angelegenheit jedoch noch nicht erledigt. In einem Brief vom 1. Januar 1936 wies Trotzki darauf hin, wie wichtig es ist, „die wirklichen Eigentumsformen von den vermeintlichen, d. h. von juristischen Fiktionen … zu unterscheiden“. Trotz der formalen Anerkennung des Privateigentums wird diese Frage, wie alles andere in China, bei näherer Betrachtung immer komplizierter.
Zunächst mal heißt es in der Verfassung auch: „Der Staat verteidigt die Einheitlichkeit und die Würde des sozialistischen Rechtssystems.“ Wie dies mit der Verteidigung des Privateigentums vereinbar ist, überlassen wir den stalinistischen Gelehrten. Ebenso rufen Aussagen wie: „Das sozialistische öffentliche Eigentum ist geheiligt und unantastbar“, sowie die Tatsache, dass es für Privatpersonen unmöglich ist, in der Stadt oder auf dem Land Grund und Boden zu besitzen, bei jedem Kapitalisten, der etwas auf sich hält, Zweifel hervor. Wenn das Kapitalismus ist, dann gewiss ein sehr ungewöhnlicher.
Aber folgen wir Trotzkis Mahnung und gehen wir über formale Rechtstexte hinaus. Ein grundlegendes Kriterium privater Eigentumsrechte ist die Möglichkeit, frei über das Eigentum zu verfügen, das man besitzt. Das ist der ganze Sinn und Zweck des Privateigentums. Die Frage ist also: Können Kapitalisten in China über ihre Vermögenswerte frei verfügen? Ja ... aber nur, wenn sie die in einer Weise nutzen, die den Wünschen der KPCh entspricht.
Einzelne Kapitalisten besitzen Anteile an Unternehmen, auch an Staatsunternehmen, aber sie haben nicht die endgültige Kontrolle über deren Geschäfte. Wir haben bereits gesehen, wie die KPCh die Ernennung von Top-Managern im Endeffekt kontrolliert. Aber die Kontrolle durch die Partei geht noch weiter. Es gibt unzählige Beispiele für direkte oder indirekte Eingriffe der KPCh, um klarzustellen, dass Eigentum, das auf dem Papier privat ist, in Wirklichkeit gar nicht so privat ist. So hat China beispielsweise den Westen dabei kopiert, Top-Manager von Staatsunternehmen mit Aktienoptionen zu belohnen. Als diese Manager jedoch beschlossen, solche Aktien zu verkaufen, wurde ihnen zu verstehen gegeben, dass sie das nicht tun sollten. Sie besaßen das Unternehmen auf die gleiche Weise, wie man ein kleines Stück Regenwald besitzen kann – man kann sich sein Zertifikat an die Wand hängen, und das ist es dann auch schon.
Das bekannteste Beispiel ist natürlich, dass die KPCh den Börsengang der Ant Group verhinderte, nachdem deren Eigentümer Jack Ma die Partei kritisiert hatte. Ants Muttergesellschaft verlor Milliarden, und Ma verschwand für Jahre aus der Öffentlichkeit. Nach dem Skandal machte das Konglomerat eine „Umstrukturierung“ durch, bei der Mas Anteil von 53,46 Prozent auf nur noch 6,2 Prozent sank. Seine Anwälte haben wohl vergessen zu betonen, dass Privateigentum in China unverletzlich ist.
Derartige plötzliche Änderungen der Eigentumsverhältnisse sind kein Einzelfall. Im Jahr 2004 versuchten die Vorstände von Haier, ihren Anteil an dem Unternehmen zu erhöhen. Nachdem dies einen Skandal ausgelöst hatte, beschloss die Regierung ohne Vorankündigung, dass Haier nicht mehr privat, sondern staatlich sei. Das Unternehmen wurde im Handumdrehen verstaatlicht und nach jahrelangen Kontroversen ebenso plötzlich wieder in ein Privatunternehmen umgewandelt.
Der „flexible“ Charakter des chinesischen Privateigentums zeigt sich am deutlichsten in Krisenzeiten. Während der Covid-Pandemie war die KPCh in der Lage, Ressourcen in einer Weise und in einem Umfang zu mobilisieren, die weit über die irgendeines kapitalistischen Landes hinausgingen. Die Pandemie schlug überall zu, und die Regierungen reagierten auf jede erdenkliche Weise. Aber die kapitalistischen Länder waren, egal wie hart ihre Maßnahmen waren, durch den privaten Charakter des Eigentums eingeschränkt. Sie konnten die Produktion von Waren und Dienstleistungen nur in sehr begrenztem Maße steuern. Im Gegensatz dazu war China in der Lage, die gesamte Gesellschaft zu mobilisieren, um die von der Regierung beschlossenen Ziele zu erreichen. Dies war nicht etwa deshalb möglich, weil Chinas Regierung einfach autoritär ist – alle Regierungen waren während der Pandemie autoritär –, sondern weil sie sich über privatkapitalistische Interessen hinwegsetzen und nach einem Plan funktionieren konnte.
Zweifellos ist die heutige Situation in China nicht wie die in der Sowjetunion. Es gibt definitiv eine Kapitalistenklasse, die Privateigentum besitzt. Die Realität dieses Privateigentums ist jedoch höchst widersprüchlich. Die Kapitalisten haben ihre Ansprüche als Klasse noch nicht vollständig durchgesetzt. Sie haben weder volle wirtschaftliche noch volle politische Kontrolle, weil die Streitkräfte des Landes nicht ihnen, sondern der KPCh-Bürokratie gegenüber loyal sind. Damit die Kapitalistenklasse in China ihre Diktatur errichten kann, muss diese Realität geändert werden – muss die Macht der KPCh zerschlagen werden.
8. Konterrevolution oder politische Revolution?
Wie würde eine Konterrevolution in China aussehen? Die Beispiele der UdSSR und Jugoslawiens geben uns eine Vorstellung davon. Ein Bürgerkrieg wäre durchaus möglich. Insgesamt hätten die Kapitalisten eine ungehemmte Kontrolle über die Wirtschaft. Staatliche Unternehmen würden in noch größerem Umfang privatisiert werden. Die Regierung würde die Kontrolle über den Bankensektor verlieren. Die Kapitalströme würden liberalisiert, was den chinesischen Markt sehr viel abhängiger von der imperialistischen Finanzwirtschaft machen würde. Millionen Menschen würden im Zuge der Umstrukturierungspläne zweifellos ihren Arbeitsplatz verlieren; aber diesmal nicht inmitten einer sich rasch entwickelnden Wirtschaft, sondern inmitten des sozialen Zerfalls. Auch eine Wiedervereinigung Chinas und Taiwans auf einer reaktionären kapitalistischen Grundlage – das strategische Ziel der Guomindang – ist sehr wohl möglich. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass irgendeine dieser Entwicklungen zu einer Verbesserung bei demokratischen Rechten oder bürgerlichen Freiheiten führen würde.
Die internationalen Auswirkungen einer Konterrevolution in China wären ebenso katastrophal. Wie beim Zusammenbruch der Sowjetunion würde der Untergang der VR China die Position der USA und ihrer Verbündeten stärken und es ihnen erneut ermöglichen, ihre Macht auf der ganzen Welt ungehindert auszuspielen. Darüber hinaus würde die massive Zerstörung von Produktivkräften, die mit einer kapitalistischen Restauration einherginge, den Lebensstandard auf dem gesamten Planeten senken.
Die sogenannten Marxisten, die behaupten, China sei kapitalistisch, arbeiten aktiv auf diese katastrophalen Ergebnisse hin, weil sie leugnen, dass es im heutigen China überhaupt etwas zu verteidigen gibt. Damit folgen sie dem Weg des Verrats, den der größte Teil der Linken in den 1980er- und 90er-Jahren beschritten hat. Von Polen über die DDR bis zur UdSSR hat die Linke die Konterrevolution bejubelt. Heute hat sie nichts daraus gelernt und praktiziert das Gleiche gegenüber China, indem sie erklärtermaßen pro-imperialistische Bewegungen wie die Demokratieproteste in Hongkong unterstützt. Anstatt chinesische Dissidenten von liberalen demokratischen Illusionen zu brechen und sie zu kommunistischen Revolutionären zu erziehen, verstärken diese Gruppen die konterrevolutionären Strömungen in der chinesischen Gesellschaft.
Glücklicherweise ist das Schicksal der VR China noch nicht besiegelt. Entscheidend wird sein, wie sich die chinesische Arbeiterklasse, die mächtigste der Welt, verhält. Doch um die Konterrevolution zu besiegen, muss sie sich ihrer politischen Aufgaben bewusst werden. In erster Linie bedeutet dies, zu verstehen, dass die Errungenschaften der Revolution von 1949 nur durch den revolutionären Sturz der KPCh gesichert werden können. Das wird eine politische Revolution sein. Anders als bei einer Revolution in einem kapitalistischen Land muss der Staatsapparat nicht völlig zerschlagen, sondern von oben bis unten gesäubert und unter die politische Kontrolle der Arbeiterklasse gebracht werden.
Bei dem Ausmaß an Degeneration der VR China und dem weit verbreiteten Einfluss des Kapitalismus wäre eine politische Revolution eine radikale und stürmische Umwälzung. Eine zentrale Aufgabe wird die Enteignung der kapitalistischen Industrie sein. Die Kapitalisten werden zweifellos Widerstand leisten. Allerdings werden sie dadurch behindert, dass der Staat nicht unter ihrer Kontrolle steht.
Gerade die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz haben gezeigt, dass unter der Stoßkraft des Proletariats der Staatsapparat selbst ins Wanken geriet und ganze Bataillone der VBA, einschließlich oberster Kommandeure, Befehle verweigerten. Angesichts eines heftigen sozialen Konflikts hing die stalinistische Bürokratie in der Luft und begann auseinanderzufallen. Die verschiedenen Ausbrüche politischer Revolutionen, ob in China, der DDR oder Ungarn, zeigen alle, dass ein Aufstand der Arbeiterklasse in einem deformierten Arbeiterstaat die reale Chance hat, den Großteil des Staatsapparats auf seine Seite zu ziehen. Wenn das in China einträte, würde es die Enteignung der Kapitalisten zu einer einfachen administrativen Angelegenheit machen. Eine solche Spaltung des Staatsapparats ist in keinem kapitalistischen Land möglich und stellt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen einer politischen und einer sozialen Revolution dar.
Schlussfolgerung
Wir haben gezeigt, dass China weder kapitalistisch noch imperialistisch ist. Doch unabhängig davon, wie man es betrachtet, haben wir es offensichtlich mit einem höchst einzigartigen Phänomen zu tun. Durch die Verbindung von staatlicher Kontrolle und Kapitalismus war China in der Lage, sich mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß zu entwickeln, wie es in der Geschichte der Menschheit bisher einmalig ist. Bürgerliche Ideologen interpretieren dies als einen Triumph für das US-amerikanische Weltsystem des Freihandelskapitalismus. Anhänger der KPCh interpretieren dies als den Triumph des „Sozialismus chinesischer Prägung“. Und „Marxisten“, die China für ein kapitalistisch-imperialistisches Land halten, können die unglaublichen Errungenschaften der VR China herunterspielen oder leugnen, aber nicht erklären.
Um China als Marxist zu analysieren, muss man von den sehr ungewöhnlichen Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges ausgehen. Lenin und Trotzki waren nicht mit einer Situation konfrontiert, in der die wichtigsten Imperialisten durch die überwältigende Vorherrschaft einer einzigen Macht geeint waren. Erst recht gab es in ihrer Welt nicht die eine Supermacht. Es reicht nicht aus, Lenin und Trotzki zu zitieren; es ist notwendig, ihre Analyse und ihr Programm auf solche einzigartigen Gegebenheiten auszuweiten. Im Grunde wird die Einzigartigkeit der gegenwärtigen Weltlage und der Entwicklung Chinas durch die Einzigartigkeit der postsowjetischen Welt erklärt.
Chinas gewaltige Entwicklung ist weder der Triumph des Imperialismus noch der Triumph des Stalinismus, sondern das Ergebnis spezifischer und einzigartiger Bedingungen. Mit der Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung 1989 war sowohl der politischen Revolution als auch der Konterrevolution eine Zeit lang die Tür versperrt. So ging China aus den frühen 90er-Jahren als ein Arbeiterstaat im relativ günstigen internationalen Umfeld unversehrt hervor.
Oberflächlich betrachtet scheint die KPCh aus ihrem Pakt mit dem Teufel als Sieger hervorgegangen zu sein. Doch das hohe Wachstum und die Koexistenz mit dem Kapitalismus waren nur möglich, weil der äußere Druck auf das Regime niedrig war. In dem Maße, wie sich der internationale Kontext verändert und die USA China konfrontieren, stagniert das Wachstum und die internen Spannungen nehmen zu. Trotz aller Bemühungen der KPCh, den Klassenkampf zu beseitigen, wird der unerbittliche Konflikt zwischen Arbeitern und Kapitalisten wieder einmal ausbrechen und die politische Bühne bestimmen. Dann wird sich zeigen, wie tief der chinesische Stalinismus den Arbeiterstaat zersetzt hat.
Ob die VR China vor der Konterrevolution gerettet werden kann oder nicht, wird von der politischen Führung an der Spitze der Arbeiterklasse entschieden werden. Wenn pro-kapitalistischen Kräften erlaubt wird, die Führung zu übernehmen, ist die VR China zum Untergang verurteilt. Wenn dem Stalinismus, in welcher Form auch immer, Zugeständnisse gemacht werden, ist die VR China ebenfalls zum Untergang verurteilt. Der einzige Weg zum Sieg ist der Weg der Vierten Internationale: rücksichtsloser Kampf gegen den Imperialismus, Verteidigung der sozialen Errungenschaften der Revolution, Sturz der stalinistischen Bürokratie und das Schmieden eines internationalen Bündnisses der Arbeiterklasse zur sozialistischen Revolution. So wie Chinas einzigartige Entwicklung das Ergebnis des internationalen Klassenkampfes war, so wird auch sein künftiges Schicksal von der Vereinigung mit den Arbeitern aller Länder abhängen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.