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Übersetzt aus Tough Times Ahead (Englisch), Spartacist (English edition) Nr. 69

Unsere letzte Ausgabe des Spartacist, die eine wichtige Wende für unsere Tendenz darstellte, war der Weltlage gewidmet und skizzierte den Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie als übergreifendes Merkmal unserer Zeit. Ausgehend von einem Überblick über die Geschichte der postsowjetischen Periode bis in die 2020er-Jahre stellen wir die große Frage unserer Zeit: Wird der Niedergang der US-Ordnung in einer Spirale aus Kriegen, politischer Reaktion und ethnischen Konflikten verlaufen, wie wir es bisher gesehen haben, oder wird die Arbeiterklasse imstande sein, diese Gelegenheit zu ergreifen, um ihre Position zu stärken und erneut die Möglichkeit eröffnen für die Errichtung einer sozialistischen Ordnung? Ob Letzteres eintritt, hängt ganz von der Qualität und der Fähigkeit der Führung der Arbeiterklasse ab, wie wir dargelegt haben, und diese Führung wird überall von Liberalen und Bürokraten gestellt, die eine Niederlage nach der anderen zu verantworten haben. Die Aufgabe der Sozialisten besteht darin, eine neue, revolutionäre Führung zu schmieden durch einen Kampf für einen Bruch mit den Verteidigern der von den USA angeführten Weltordnung und ihren Versöhnlern in der Arbeiterbewegung.

Die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre haben diesen Kampf noch dringlicher gemacht. Allerdings werden die Kampfbedingungen immer schwieriger. Die Welle von Streiks und sozialen Kämpfen nach den anfänglichen Schockreaktionen auf Pandemie und Ukrainekrieg ist abgeflaut. Die pro-palästinensische Bewegung verliert an Schwung, weil sie in ohnmächtigem Liberalismus und islamischem Nationalismus feststeckt. Trotz einiger Ausbrüche hier und da ist es der Arbeiterklasse nirgendwo gelungen, sich als ernstzunehmende politische Kraft durchzusetzen, die in der Lage ist, das Heft in die Hand zu nehmen und ihre Interessen den Interessen der herrschenden Klasse direkt entgegenzustellen.

Das Gleiche gilt für die linken und sozialistischen Bewegungen, die in fast allen Gesellschaften weiter an Bedeutung verlieren. Anstatt die geschwächte Position der US-Imperialisten auszunutzen, haben sich Sozialisten aller Schattierungen in reaktionären Koalitionen mit liberalen und „fortschrittlichen“ Politikern aufgelöst, wie die Neue Volksfront in Frankreich und die von der Kongresspartei geführte Koalition in Indien. Oder aber sie verfolgen einen sektiererischen Kurs und sondern sich von der Masse der Arbeiter ab. In beiden Fällen ist die Arbeiterbewegung am Ende fest mit den Kräften des Status quo verbunden, gelähmt und in den Augen von Millionen diskreditiert.

Infolgedessen ist die einzige politische Kraft, die wirklich zugelegt hat, die Rechte, die weltweit auf dem Vormarsch ist. Wachsende Arbeiterschichten sehen in rechten Demagogen die einzigen, die sich dem unerträglichen Status quo entgegenstellen. Und immer größere Teile der herrschenden Klasse legen ihr Schicksal in ihre Hände, weil sich der jahrzehntelange liberale Konsens als unfähig erweist, die Krise zu lösen, die die Welt erschüttert. Zu Trumps Sieg bei den jüngsten US-Wahlen siehe Spartakist Nr. 227, Herbst 2024.

Die Verschlechterung der politischen Lage für die Arbeiterklasse erfolgt an der Schwelle zu großen Erschütterungen. Da ist erstens die Weltwirtschaft. Sie hat sich zwar im letzten Jahr relativ stabilisiert, bleibt aber höchst instabil und wird durch Spekulationsrausch angetrieben. Es ist davon auszugehen, dass es in naher Zukunft zu einer Rezession oder sogar zu einem Wirtschaftskrach kommt. In Gesellschaften, die bereits von Konflikten und Polarisierung geprägt sind, wird dies unweigerlich zu tiefgreifenden politischen Unruhen führen. Zweitens wird die Ukraine auf dem Schlachtfeld gerade aufgerieben. Ein russischer Sieg, entweder militärisch oder durch eine Einigung mit den USA, scheint das wahrscheinlichste Ergebnis zu sein, denn Trump hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er einen Deal zur Beendigung des Krieges bevorzugt. Dies hätte wesentliche Auswirkungen auf die gesamte politische und militärische Ordnung in Europa und darüber hinaus.

Drittens ist da China. Sein auf postsowjetischer Stabilität basierendes Wachstumsmodell stößt an seine Grenzen. Das Land steht unter zunehmendem militärischen und wirtschaftlichen Druck der USA und erlebt wachsende interne Spannungen. Die herrschende Clique der Kommunistischen Partei, die sich zunehmend in der Zwickmühle zwischen dem Imperialismus und dem riesigen chinesischen Proletariat befindet, wird auf Unruhen in der für stalinistische Bürokratien typischen chaotischen und brutalen Weise reagieren. Dadurch werden sich die beiden Wege, die China offenstehen, noch viel deutlicher abzeichnen: kapitalistische Restauration oder Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, somit Neugestaltung der Volksrepublik. Um die Arbeiterklasse in den kommenden Konflikten anleiten zu können, ist ein richtiges materialistisches Verständnis von entscheidender Bedeutung, und darum geht es in unserem ausführlichen Artikel „Der Klassencharakter Chinas“ auf Seite 76.

Ob es sich nun um eine wirtschaftliche Depression handelt, um das Ergebnis der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten oder die Verschiebungen in Ostasien, diese Entwicklungen werden zwangsläufig neue wirtschaftliche und geopolitische Erschütterungen auslösen. Doch angesichts der jetzigen Situation der Arbeiterklasse weltweit und der Tatsache, dass sie keine eigenständige Gegenkraft darstellt, besteht die Gefahr, dass diese Ereignisse zunächst einmal der politischen Rechten zugutekommen und die Umgestaltung der von den USA angeführten Weltordnung weg von liberalen Werten und Institutionen weiter beschleunigen, hin zu noch reaktionäreren Vereinbarungen auf Kosten der Arbeiter und Unterdrückten. Das wiederum wird die Verteidiger des liberalen Status quo – an den sich der größte Teil der Linken immer noch klammert – weiter unter Druck setzen und zu der üblichen Panik und Hysterie führen.

Der Kampf der Arbeiterklasse und ihr Auftreten auf der Bühne ist das einzige Element, das dieser Dynamik eine progressive Richtung geben kann. Dafür in jeder Phase zu kämpfen ist für Sozialisten eine dringende Notwendigkeit. Andernfalls steuern wir auf eine Periode verstärkter Reaktion und von Angriffen auf die Linke und die Arbeiterbewegung zu – daher die Überschrift dieses Leitartikels. Zweifellos werden die kommenden Erschütterungen neue Möglichkeiten für Kämpfe und sogar soziale Explosionen mit revolutionärem Potenzial eröffnen – ein wenig davon ist in Nigeria, Kenia und Bangladesch zu sehen. Aber es ist völlig realitätsfern zu glauben, wie manche Linke es tun, dass die allgemeinen Entwicklungstendenzen die revolutionäre Bewegung begünstigen und dass kühne Offensiven an der Tagesordnung sind.

Vielmehr ist es die Aufgabe von Revolutionären in der nächsten Zeit, Verteidigungskämpfe gegen die wachsende Reaktion vorzubereiten, die geduldige Arbeit der Verankerung in der Arbeiterklasse zu leisten und politische Kämpfe mit anderen linken Organisationen zu führen, in deren Reihen es höchstwahrscheinlich zu Krisen kommen wird. Vor allem muss die kommende Periode dazu genutzt werden, den Kampf gegen die Arbeiterführer voranzutreiben, die das Proletariat in diese Lage gebracht haben, sowie gegen ihre „linken“ Mitläufer, die sie die ganze Zeit abschirmten. Man muss entschlossen gegen diejenigen kämpfen, die unter den Schlägen der Reaktion versuchen, die Arbeiterbewegung weiterhin an das liberale Kleinbürgertum zu binden und die Verratspolitik zu wiederholen, die uns überhaupt erst hierhin gebracht hat.

Diese Ziele sind nur mit einem richtigen Verständnis der Weltlage zu erreichen. In vielerlei Hinsicht ist der Inhalt dieser Ausgabe des Spartacist unser Beitrag zu diesen kommenden Kämpfen.

Verratene Gelegenheiten

Obwohl die Welt seit Jahren in ständigem Aufruhr ist, wäre es für Marxisten falsch, sich von der „Dauerkrise“ blenden zu lassen und das ständige Auf und Ab in unserer Zeit nicht zu erkennen – wann die Kämpfe der Arbeiterklasse für die Offensive reif sind und wann es Zeit ist, sich zurückzuziehen und eine defensive Haltung einzunehmen. So haben beispielsweise die wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen, die durch die Pandemie, das Ende der Lockdowns und den Ausbruch des Krieges in der Ukraine 2022 ausgelöst wurden und die bis 2023 andauerten, zu einem Aufschwung der Klassen- und sozialen Kämpfe geführt und der Arbeiterklasse wichtige Gelegenheiten geboten, in die Offensive zu gehen und das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Größere Streikbewegungen erfassten Frankreich, Britannien, die USA und viele andere Länder, während soziale Explosionen den Iran und Sri Lanka erschütterten.

Die Streiks in Frankreich, Britannien und den USA werden von vielen Linken immer noch als großartiges Beispiel gefeiert („die Arbeiterklasse ist zurück“, heißt es), wobei bequemerweise weggelassen wird, dass diese Welle von Kämpfen durch ihre eigenen Führer sabotiert und verraten wurde. Weil die Führer der Arbeiterbewegung allesamt Leute von gestern sind, die das imperialistische System unterstützen, weigerten sie sich, eine ernsthafte Offensive gegen die herrschende Klasse zu starten, als die Zeit reif war. Stattdessen wurden in Britannien und Frankreich Streiks erstickt und eingedämmt, bis ihnen der Atem ausging und sie in einer Niederlage und Demoralisierung endeten. In den USA brachten die Gewerkschaftsbürokraten die Kämpfe der großen Gewerkschaften (Teamsters, Hafenarbeiter der ILWU und neuerdings der ILA, UAW in der Automobilindustrie und IAM bei Boeing) zum Scheitern, indem sie Lohnabschlüsse akzeptierten, die im wahrsten Sinne des Wortes Bestechungsgelder waren, die auf Druck des Weißen Hauses zustande kamen, um die Arbeiterbewegung ruhigzustelllen und um zu verhindern, dass sie als unabhängige Kraft auf die politische Bühne trat. Im Herbst 2023 war die machtvolle Gewerkschaftsbewegung in Québec wahrscheinlich in der besten Position im Westen, um eine Offensive zu starten, und musste dann mit ansehen, wie ihr bürokratischer Apparat die halbe Million Gewerkschaftsmitglieder, die damals in Tarifverhandlungen standen, niedermachte und den Kampf ausverkaufte.

So wurden auf unterschiedliche Weise hervorragende Gelegenheiten, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu verschieben, sabotiert und die Position der Arbeiterklasse insgesamt geschwächt. In all diesen Fällen bestand die Aufgabe von Revolutionären darin, oppositionelle Gruppierungen innerhalb der Gewerkschaften zu bilden, um auf eine breite Offensive zu drängen, basierend auf einer Strategie, die in völligem Gegensatz zu allen Flügeln der Gewerkschaftsbürokratie steht. Stattdessen unterstützte der Großteil der Linken diese Gewerkschaftsbürokraten und Politiker, die linke Sprüche klopften, indem die Linken die Kämpfe bejubelten und ihre Kritik auf taktische Fragen beschränkten (wann soll gestreikt werden, wie lange usw.). Diese Niederlagen beschleunigten den politischen Rechtsschwenk. In allen oben genannten Ländern kam es nach der Niederlage der Streiks zu einem Anstieg von giftigen Polarisierungen gegen Immigranten.

Im Iran war der Mord an Mahsa Amini der Auslöser für eine starke Protestbewegung. Obwohl die Bewegung mit enormer Repression durch das brutale klerikale Regime konfrontiert war, gelang es ihr nicht, breitere Bevölkerungsschichten politisch für sich zu gewinnen, zum Teil weil sie sich mit pro-imperialistischen und monarchistischen Kräften verband. Das Regime konnte an die tief verwurzelten antiimperialistischen Gefühle der Massen appellieren, um seinen Einfluss zu behalten und die Unterstützung der Bevölkerung für die Revolte zu neutralisieren. Dadurch wiederum verfestigte sich die Unterstützung der Opposition für die pro-imperialistische Politik. Heute lehnen es viele iranische Linke ab, sich für die Sache Palästinas einzusetzen, eben weil sie ein verräterisches Bündnis mit dem westlichen Imperialismus anstreben.

Das Beispiel Iran verdeutlicht das allgemeinere Problem der Linken in der sogenannten „Dritten Welt“, die ständig hin- und hergerissen sind zwischen der Unterstützung für verschiedenste Nationalisten im Namen des „Antiimperialismus“ einerseits und dem Schulterschluss mit Liberalen, NGOs und anderen pro-imperialistischen Kräften andererseits. In beiden Fällen liquidieren sich sogenannte Revolutionäre letzten Endes in Kräfte, die den Interessen der arbeitenden Massen feindlich gegenüberstehen, und erweisen sich als irrelevant und diskreditiert. Das zeigt, dass der Fortschritt im Iran oder überhaupt im Globalen Süden nur durch revolutionäre Opposition gegen den Imperialismus erreicht werden kann, aber auch gegen die Nationalisten – seien sie links oder konservativ –, da sie unfähig sind, den Imperialismus zu bekämpfen, und von Natur aus dazu tendieren, sich mit ihm zu versöhnen.

Palästinensischer Befreiungskampf in der Sackgasse

Israels völkermörderischer Krieg nach der Hamas-Operation Al-Aqsa-Flut vom 7. Oktober stand im Mittelpunkt der meisten Protestbewegungen der letzten Monate. Doch der Kampf steckt in einer Sackgasse. Trotz monatelanger Massenproteste in der arabischen Welt, im Westen und darüber hinaus ist die Bewegung ohnmächtig geblieben, unfähig dazu, Israel sofort zu stoppen oder die Unterstützung zu beenden, die es von den westlichen Mächten erhält. Dennoch behauptet der größte Teil der Linken weltweit, der Kampf sei im Aufschwung, wobei einige sogar skandieren: „Palästina ist fast frei“! Diese wahnwitzige Einschätzung dient dazu, eine Auseinandersetzung mit den politischen Problemen der Bewegung zu vermeiden, die ein Jahrhundert zurückreichen und die im Hauptartikel dieser Ausgabe ausführlich behandelt werden (siehe Seite 34).

Worum es bei Palästina geht, ist der Kampf für nationale Befreiung. In diesem Sinne ist es offensichtlich, dass Palästina noch nie weiter von der Befreiung entfernt war. Gaza wurde dem Erdboden gleichgemacht, eine neue Nakba ist im Gange und der zionistische Terror im Westjordanland hat neue Ausmaße erreicht. Viele verweisen darauf, dass Israels internationales Ansehen gelitten hat oder dass die palästinensische Sache jetzt weltweit mehr Aufmerksamkeit erfährt. Das ist wahr, aber zweitrangig. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass die zionistische Bewegung bei ihrem Ziel, nämlich der Vertreibung und Vernichtung der Palästinenser vom Fluss bis zum Meer, viel schneller vorankommt als davor. Die Zerstörung von Gaza und die starke nationale Einheit in Israel hinter dem Krieg zeigen, dass die Strategie der Hamas – eine harte israelische Reaktion zu provozieren, um dann auf das Eingreifen der UNO, der „internationalen Gemeinschaft“ und der verräterischen arabischen Regime zählen zu können – den Palästinensern die Katastrophe gebracht hat.

Im Westen wird die Bewegung durch liberale Vorstellungen und durch Verbindungen zu genau den herrschenden Klassen und Parteien behindert, die den Völkermord unterstützen. In Britannien werden die Massendemonstrationen von Gewerkschaftsbürokraten und Politikern geführt, die die israelfreundliche Labour Party unterstützen. In den USA sind „linke“ Politiker der Demokratischen Partei an der Spitze, zusammen mit den Democratic Socialists of America, die die Demokratische Partei des Völkermords unterstützen und für sie Wahlkampf machen. In Deutschland ist die Bewegung trotz des Mutes der Aktivisten, die einem nahezu vollständigen zionistischen Konsens gegenüberstehen, nach wie vor an die Linkspartei und die SPD-geführte Regierung gebunden, die Israel voll und ganz unterstützen. Deshalb hat sich in all diesen Ländern die Arbeiterbewegung nicht in den Kampf eingeschaltet, und Aufrufe zu Arbeiterkampfmaßnahmen, um die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen – was die Situation tatsächlich ändern könnte –, sind weitgehend Makulatur geblieben.

Im Globalen Süden ist die Dynamik anders, aber nicht grundlegend anders. Im Nahen Osten wird die pro-palästinensische Bewegung oft von den Regimen selbst angeführt – wie in Türkiye, im Iran und in Ägypten –, die Lippenbekenntnisse für die Palästinenser abgeben und gleichzeitig die Beziehungen zum US-Imperialismus ausbalancieren und die innenpolitische Stabilität bewahren wollen. Oft sind die einzigen, die in frontaler Opposition zu den Regimen stehen, Islamisten oder liberale Kräfte, deren Strategien Palästina nicht befreien können und deren Programme die Arbeiterklasse spalten.

Ob im Globalen Süden oder in der westlichen Welt, die Ziele, Forderungen und Methoden der Bewegung (z. B. Appelle an die UNO, Campus-Zeltlager, vom Regime geförderte Demonstrationen) sind alle durch ein Bündnis mit einem Flügel der herrschenden Klasse eingeschränkt. Dies garantiert Machtlosigkeit und wird Demoralisierung bringen und die Arbeiterbewegung weiter von der palästinensischen Sache trennen. So werden rechte Kräfte in die Lage versetzt, einen Gegenschlag gegen die Bewegung zu führen und hart gegen sie weiter durchzugreifen. Wir sind bereits Zeuge dieser Entwicklung.

Angesichts all dessen ist es für Revolutionäre ein Verbrechen, die Bewegung einfach nur zu bejubeln. Vielmehr müssen Revolutionäre gegen die liberalen und nationalistischen Sackgassen für eine grundlegend andere Vorgehensweise kämpfen. Unser Artikel „Marxisten und Palästina: 100 Jahre Versagen“ heißt nicht umsonst so. Solange die sozialistische Bewegung den Kampf in rosigen Farben malt und es ablehnt, die politische Sackgasse zu erkennen, in der sie sich befindet, ist der Kampf für die Befreiung Palästinas dazu verurteilt, die gleichen Fehler zu wiederholen. Nationalisten versöhnen sich schlussendlich mit dem US-Imperialismus und dem zionistischen Staat und werden dann von radikaleren Islamisten überholt, deren Aktionen die zionistische Festung stärken, während liberale Aktivisten im Ausland jedem zujubeln, der die Bewegung anführt.

Wahlergebnisse und die Arbeiterklasse

Im letzten Jahr fanden zahlreiche Wahlen statt. Ihre Ergebnisse sind sicher nicht die treibende Kraft für Veränderungen, weisen aber auf gesellschaftliche Entwicklungen hin und spiegeln aktuelle Polarisierungen wider. Gerade hier sind die Erfolge der Rechten am deutlichsten, mit Siegen in Italien, den Niederlanden und Argentinien und bedeutenden Zugewinnen in Deutschland, Österreich, Frankreich und vielen weiteren Ländern. In Südafrika kam es zu einer Koalition zwischen dem ANC und der Demokratischen Allianz, einer offen pro-imperialistischen und von Weißen dominierten Partei.

Viele Linke auf der ganzen Welt feierten die Wahlergebnisse in Indien und Frankreich. Modi wurde mit einer deutlich geschrumpften Mehrheit wiedergewählt, was ihn zu einer Koalition zwang – ein Umstand, den viele Linke und Liberale als einen großen Sieg für die indische „Demokratie“ und das von der Kongresspartei geführte Volksfrontbündnis ansehen. Wie wir in unserem Artikel auf Seite 3 ausführen, liegt der Grund für Modis Stimmenverlust in den Grenzen und Misserfolgen des Wachstumsmodells der BJP und ist keineswegs das Verdienst des ohnmächtigen Bündnisses der Kongresspartei, das von den Kommunistischen Parteien bis zu Hindu-Chauvinisten reicht. Der sogenannte liberale Flügel der indischen Bourgeoisie, an den sich die Linke klammert, hat überhaupt keine Antwort auf Indiens Entwicklungsprobleme, die in der Abhängigkeit von ausländischem Kapital und im kapitalistischen Eigentum wurzeln. Er kann es nur fertig bringen, genau denjenigen rechten Kräften Auftrieb zu geben, die er zu blockieren behauptet.

Die gleichen triumphierenden Töne kommen aus Frankreich, und es geht um das gleiche Problem. Die Neue Volksfront, die bei den Parlamentswahlen auf Platz eins landete, ist eine große Koalition von Linken bis hin zu einigen der reaktionärsten Vertreter des französischen Imperialismus, die während ihrer eigenen Regierungszeit brutale Angriffe gegen die Arbeiterklasse anordneten. Ihr offen pro-imperialistisches Programm ist ein unzusammenhängendes Projekt, dessen einziger Zweck es ist, diesen instabilen Block zusammenzuhalten. Wie der Artikel auf Seite 28 zeigt, waren unsere französischen Genossen die einzigen, die sich dieser reaktionären Koalition entgegenstellten, während die Linke sich ihr ungeniert anschloss (PCF, NPA-A usw.) oder im zweiten Wahlgang vor ihr kapitulierte (LO, NPA-R und RP). Liberale und Linke feiern, aber wir sehen hier eine tragische Neuauflage der „republikanischen Front“ – der Aufeinanderfolge von Abkommen zur Klassenzusammenarbeit, die im Namen einer „Blockade gegen die Rechte“ getroffen wurden und deren einzige Erfolge die Angriffe auf die Arbeiterklasse waren und ... die weitere Stärkung der Rechten.

Von Indien bis Frankreich und Argentinien verdeutlichen die Wahlergebnisse, dass die Arbeiterklasse ständig an einen Flügel der herrschenden Klasse gekettet ist, der für die Verelendung verantwortlich ist, die wiederum die Kräfte der Reaktion nährt. In dem Maße, wie die Gefahr der rechten Reaktion zunimmt, wächst auch der Druck, sich mit Elementen der Bourgeoisie zu vereinigen. Viele „Revolutionäre“ bieten sich als der Leim für solche unheiligen Allianzen an, anstatt auf eigenen Füßen zu stehen, diese ganze reaktionäre Veranstaltung anzuprangern und einen unabhängigen Kurs einzuschlagen, um für das zu kämpfen, was die Arbeiterklasse wirklich braucht.

Allerdings gibt es auch einige Länder, die dem von uns skizzierten Trend nicht folgen, allen voran Mexiko. Dort führten die jüngsten Wahlen zu einem überwältigenden Sieg der links-populistischen Partei Morena gegen die weit unterlegene Rechte und damit zu einer zweiten Amtszeit. Diese Ausnahme ist jedoch nicht dem Handeln der Führer der Arbeiterbewegung zu verdanken, die sich in Morenas bürgerlichem Populismus aufgelöst haben, sondern der besonderen Stellung Mexikos in der gegenwärtigen Weltordnung. Während die Imperialisten ihr Kapital aus China abziehen, ist Mexiko zu einem Magneten für ausländische Investitionen geworden und hat im letzten Jahr China als größter Exporteur von Waren in die USA überholt. Das hat der Regierung zu einer Stärkung ihrer Position gegenüber den USA verholfen, die eine links-populistische Regierung (vorerst) tolerieren. Es führte aber auch zu einem Anwachsen des mexikanischen Proletariats, das in großen und modernen Fabriken arbeitet und einen wachsenden Anteil der US-Wirtschaft in seinen Händen hält. In einigen anderen Ländern, vor allem in Südostasien, ist ein ähnlicher Prozess zu beobachten.

Diese gewaltige Kraft, die ihre Muskeln noch gar nicht hat spielen lassen, hält den Schlüssel zum Fortschritt in der Hand und hat das Potenzial, die Welt in eine progressive Richtung zu verändern. Tatsächlich führten zum Zeitpunkt der Produktion der englischsprachigen Spartacist-Ausgabe die mächtigen Bergarbeiter von Lázaro Cárdenas im mexikanischen Michoacán einen militanten Streik gegen den imperialistischen Großkonzern ArcelorMittal durch, bevor ihnen ihre Gewerkschaftsführer, hinter denen die Regierung von Morena steht, in den Rücken fielen. Die Bergarbeiter haben der Welt eine Kostprobe ihrer Macht gegeben, aber auch gelernt und gezeigt, dass die Frage der Führung alle anderen Fragen entscheiden wird. Konkret zeigt sich dies in Mexiko durch die Notwendigkeit, die Zwangsjacke des Populismus zu zerreißen, die den Kampf gegen die Versklavung des Landes durch ausländisches Kapital behindert.

Ein Jahr Arbeit, die Linke und die anstehenden Aufgaben

Wir wiesen bereits darauf hin, dass viele Marxisten die gegenwärtigen Bewegungen in leuchtenden Farben sehen und revolutionäre Erhebungen für die unmittelbare Zukunft vorhersagen. Die vor kurzem gegründete Revolutionäre Kommunistische Internationale verkörpert diese Tendenz wohl am besten, wenn sie die wachsende Unruhe und ihre jüngsten Rekrutierungen in studentischen und kleinbürgerlichen Schichten als Beweis dafür interpretiert, dass sich die Massen der Welt dem Kommunismus zuwenden. Sicher werden sie uns Pessimismus vorwerfen.

Es ist kein Pessimismus, wenn man feststellt, dass der Arbeiterklasse harte Zeiten bevorstehen. Revolutionär zu sein erfordert Optimismus. Aber revolutionärer Optimismus bedeutet nicht, mit Illusionen und falschen Hoffnungen hausieren zu gehen, wie es der Rest der Linken tut. Die einzige Grundlage für Optimismus ist revolutionärer Realismus, der von einem materialistischen Verständnis der sozialen und politischen Verhältnisse ausgeht. Als Marxisten beurteilen wir den Gesamtverlauf des Klassenkampfes danach, ob die Position des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie gestärkt wird. Unser revolutionärer Optimismus entspringt unserer Einsicht in die Gesetze des Klassenkampfes und unserem Vertrauen in die Arbeiterklasse als die entscheidende Kraft des weltgeschichtlichen Fortschritts. Er hat eine viel solidere Grundlage als ein durch Impressionismus und Illusionen aufgeblasener Optimismus.

Während die veränderte Weltlage einige linke Organisationen dazu veranlasst hat, die Welt mit verwirrtem Optimismus zu betrachten, verkörpern andere buchstäblich die Krise der Linken. Hier finden wir Gruppen wie CWI, ISA, IST und andere, die ihr Schicksal mit den inzwischen untergegangenen Bewegungen um Syriza, Jeremy Corbyn und Bernie Sanders verbunden haben. Sie stehen orientierungslos und demoralisiert da und hoffen, die vergangene „Magie“ von der Mitte der 2010er-Jahre wieder aufleben zu lassen. Schließlich gibt es noch die unzähligen sektiererischen Gruppen, die sich an starre Dogmen und Formeln klammern, die von den Realitäten des Klassenkampfes völlig losgelöst und somit für die aktuellen politischen Entwicklungen irrelevant sind.

Alle diese Strömungen, ob impressionistisch, demoralisiert oder irrelevant, lehnen genau das ab, was unsere eigene Organisation vor kurzem in ihrer wesentlichen Neuorientierung bekräftigt hat: dass es die Aufgabe der Marxisten ist, eine revolutionäre Strategie vorzulegen, welche die Kämpfe der Arbeiter und Unterdrückten gegen ihre bürokratischen, liberalen und nationalistischen Führungen vorantreiben kann. Im Grunde genommen läuft unsere zentrale Differenz mit allen anderen linken Organisationen auf die Frage der revolutionären Führung hinaus.

Seit 2023 versuchten die Sektionen unserer Internationale, in die verschiedenen Kämpfe ihrer jeweiligen Gesellschaft einzugreifen, um revolutionäre Pole zusammenzuschließen, und zwar nicht durch revolutionäres Geschwätz, sondern durch das Aufzeigen eines Weges, der den Kampf gegen die Sabotage der gegenwärtigen Führer voranbringt. Wir intervenierten in die britischen, französischen und amerikanischen Streikwellen, indem wir einen Weg zum Sieg aufzeigten und den Bürokratien in grundlegenden strategischen Fragen entgegentraten. Wir intervenierten in den pro-palästinensischen Kampf, versuchten in den USA Studentenstreiks zu organisieren, beteiligten uns in Deutschland an Einheitsfront-Verteidigungsaktionen und stellten in Australien Kontingente mit der Forderung auf, die Anbindung an die USA zu zerbrechen – in all diesen Fällen versuchten wir, eine Spaltung gegen die pro-imperialistischen Kräfte voranzutreiben, die die Bewegung fesseln.

Unsere griechischen Genossen intervenierten Anfang 2024 intensiv in die Studentenkämpfe und stellten sich dabei frontal gegen die Sabotage der stalinistischen KKE-Führung, versuchten den Kampf gegen die EU zu richten und verknüpften ihn mit der Arbeiterklasse. Wir haben auch versucht, unsere Interventionen im Globalen Süden, wo wir nur eine geringe Präsenz haben, durch Reisen nach Argentinien, Brasilien, die Philippinen, Nigeria und andere Länder zu verstärken.

Von zentraler Bedeutung sind unsere Interventionen beim Industrieproletariat. Insbesondere arbeiten unsere deutschen Genossen mit einem kämpferischen Komitee von Hamburger Hafenarbeitern zusammen, das gegründet wurde, um die Privatisierung des Hafens und die kriminelle Unterstützung dieses Angriffs durch die Gewerkschaftsbürokratie zu bekämpfen. Unsere Genossen machen sich dort einen Namen als „die, die nicht lockerlassen“.

In den USA hat unsere anhaltende Intervention in die Streiks der Automobilgewerkschaft (UAW) sowie der ILA-Docker an der Ostküste und der IAM bei Boeing dazu geführt, dass Workers Vanguard mit Hunderten von Abonnements ein echtes Gehör bei den Arbeitern gefunden hat. Während des Streiks bei Boeing arbeiteten wir mit einem Mobilisierungskomitee in der IAM zusammen, das für eine echte Alternative zur Gewerkschaftsführung und gegen die miesen Vereinbarungen kämpfte, die diese den Streikenden zur Abstimmung vorlegte. In Kalifornien unterstützten wir die Kampagne gegen die Stufen-Segregation [faktische Rassentrennung durch Tarifeinstufungen] von Hafenarbeitern, die von Emily Turnbull, Mitglied des Exekutivausschusses der ILWU-Gewerkschaftssektion Nr. 10, angeführt wurde. Weitere Bemühungen, eine klassenkämpferische Opposition gegen die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen, gibt es unter anderem im Verkehrswesen, in der Elektrikergewerkschaft und im Gesundheitswesen.

Eine unserer größten Anstrengungen im letzten Jahr war der Kampf innerhalb der sozialistischen Bewegung um eine grundlegende Neuorientierung. Wo immer es möglich war, bemühten wir uns um Einheitsfrontaktionen mit anderen Gruppen und diskutierten mit anderen Organisationen, um politische Differenzen über Schlüsselfragen der marxistischen Bewegung zu klären. Der Artikel über China in dieser Ausgabe ist ein Ergebnis davon. Ebenso der Artikel „Marxistische Prinzipien und Wahltaktik neu überdacht“ (Seite 18). Neben der Korrektur unserer früheren sektiererischen Herangehensweise an Wahlen bietet er eine umfassendere Darstellung, wie Marxisten Wahlen und die Anwendung von Taktiken in revolutionärer Weise nutzen können. Ausgehend von Diskussionen über diese Frage konnten wir intensive und lohnende Interventionen bei Wahlkämpfen in Britannien, Frankreich, Südafrika und den USA durchführen.

Entscheidend für all das war unser Bemühen, die Welt und die Gesellschaften, in denen wir arbeiten, zu verstehen und die politische Neuorientierung der IKL zu vertiefen. Im Oktober 2023 brachte unsere südafrikanische Sektion die erste Ausgabe ihrer neuen Zeitung AmaBolsheviki Amnyama heraus, mit einem ausführlichen Dokument über die Lehren aus dem Anti-Apartheid-Kampf (siehe „For National Liberation and Black Proletarian Power!“ [Für nationale Befreiung und schwarze proletarische Macht!]). Unsere australische Sektion hat vor kurzem mit der Gruppe Bolshevik-Leninist fusioniert. Grundlage dafür waren wichtige Interventionen in der Arbeiterbewegung und anspruchsvolle Dokumente zu grundlegenden Fragen der australischen Politik, die in ihrer neuen Zeitung Red Battler veröffentlicht wurden. Unsere italienischen Genossen haben einen wichtigen Artikel verfasst, in dem sie genau beschreiben, wie die Verbindungen der Arbeiterbewegung mit der euro-atlantischen Ordnung, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zurückreichen, ihre heutigen Kämpfe, nicht zuletzt gegen Meloni, lähmen. Diese Durchbrüche folgten auf nationale Konferenzen, die in den letzten Jahren in den USA, Mexiko und Britannien abgehalten wurden und auf denen wir versuchten, unseren nationalen Sektionen in den brennenden Fragen ihrer Gesellschaft eine feste Grundlage zu geben.

Aktive Intervention in verschiedene Bewegungen, um ihnen eine revolutionäre Richtung zu geben; Einheitsfrontaktionen mit anderen Organisationen in der Arbeiterbewegung; geduldige Verankerung in der Arbeiterklasse, um Pole des Kampfes gegen die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Entscheidend dabei sind Debatten und Kämpfe innerhalb der Linken, um Klarheit darüber zu erzielen, was in der Welt vor sich geht und was die Aufgaben von Revolutionären sind. Das ist die Arbeit, die wir geleistet haben, und das ist die Aufgabe, die sich in der vor uns liegenden Zeit jedem ernsthaften Revolutionär stellt. Sicher, wir sind eine kleine Organisation, und wir wissen, dass diese Arbeit bescheiden ist. Aber ihre Ziele sind nicht bescheiden.

Harte Zeiten liegen vor uns. In der zerrissenen liberalen postsowjetischen Welt erhebt die Reaktion ihr Haupt. Linke Gruppen, die keinen Kompass haben und demoralisiert sind, werden zerbrechen. Diejenigen, die blind sind für die Dynamik der Periode und glauben, die vor ihnen liegende Herausforderung könne durch Geschrei nach Kommunismus gemeistert werden, werden auf die harte Tour lernen, dass die kommunistische Bewegung nicht unabhängig von der allgemeinen Arbeiterbewegung wachsen kann.

Wir behaupten nicht, alle Antworten zu haben. Aber wir sind überzeugt, dass wir die Antworten auf bestimmte Kernprobleme haben, die die Linke heute plagen. Wir hoffen, dass dieser Spartacist, zusammen mit der vorherigen Ausgabe, denjenigen, die es ernst meinen mit dem Kampf für die Revolution, helfen kann, sich auf die kommenden, unvermeidlich stürmischen Zeiten vorzubereiten.