QR Code
https://iclfi.org/spartacist/de/34/permanenten

WAS IST DIE PERMANENTE REVOLUTION?

Das folgende Dokument wurde von der VIII. Internationalen Konferenz der IKL angenommen.

Die Epoche des Imperialismus ist gekennzeichnet durch die Aufteilung der Welt in eine große Zahl von unterdrückten Ländern und eine Handvoll wirtschaftlich und militärisch dominierender Unterdrückerländer. Die gegenwärtige Weltlage ist durch die Hegemonie des US-Imperialismus gekennzeichnet, der im Bündnis mit den anderen imperialistischen Mächten (Deutschland, Britannien, Frankreich, Japan) die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung durch den Export von Finanzkapital unterjocht. Die nackte und offene Ausplünderung der Kolonien in den alten Zeiten der Kolonialreiche ist der Ausplünderung von Ländern gewichen, die zwar formal unabhängig, in Wirklichkeit aber Neokolonien oder abhängige Staaten sind, die durch die Großmächte mit wirtschaftlicher und militärischer Erpressung in Knechtschaft gehalten werden.

In den meisten Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Osteuropas kontrollieren und diktieren die Imperialisten, und nicht die nationale Bourgeoisie, jeden Aspekt des wirtschaftlichen und politischen Lebens und behindern und verhindern so die wirtschaftliche, nationale und kulturelle Entwicklung. Kredite, Plünderung natürlicher Ressourcen, billige Arbeitskräfte, Währungspolitik usw. sind alles Mittel, mit denen die Finanzoligarchie und die imperialistischen Monopole ihre Herrschaft festigen, von der gesamten Gesellschaft Tribut erheben und diese Länder in einem Zustand des Elends halten.

In diesen Ländern ist die moderne Industrie ein Produkt des ausländischen Kapitals. Direkt neben der neuesten Technologie in Industrie und Landwirtschaft gibt es vorkapitalistische soziale Verhältnisse. Fabriken, Eisenbahnen, Bergwerke und Häfen sprießen dort aus dem Boden, wo das Land noch mit dem Wasserbüffel und Holzpflug bearbeitet wird. Die dominierende Rolle des ausländischen Kapitals verleiht der nationalen Bourgeoisie einen äußerst schwachen Charakter: Sie ist nur teilweise in der Lage, das Niveau einer herrschenden Klasse zu erreichen, und bleibt somit in der Position einer halb herrschenden und halb unterdrückten Klasse gefangen. Gleichzeitig proletarisiert das ausländische Kapital die Bevölkerung und bringt eine Arbeiterklasse hervor, die dann im Leben des Landes eine zentrale Rolle spielt. Die Gründung mächtiger Gewerkschaften und häufig auch von Arbeiterparteien stellt eine starke Kraft dar, die sich gegen die imperialistische Ausbeutung zur Wehr setzen und fragilen nationalen Bourgeoisien und Regierungen entgegentreten kann.

Die Rückständigkeit der nationalen Wirtschaft, die völlige Korruption der lokalen Regierungen, die zahllosen ethnischen und religiösen Spaltungen, das Fortbestehen vorkapitalistischer Verhältnisse: All diese Bedingungen, die durch die Fremdherrschaft aufrechterhalten und verstärkt werden, schaffen eine untrennbare Verbindung zwischen der sozialen Befreiung der werktätigen Massen und der nationalen Emanzipation. Gerade der Widerstand gegen solches Elend und gegen nationale Erniedrigung sowie das Streben nach Land, Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung treiben den Kampf der Arbeiter- und Bauernmassen voran und geben ihren ganz grundlegenden Forderungen einen explosiven Charakter.

Die Entwicklung und Modernisierung der neokolonialen Länder erfordern die Lösung grundlegender demokratischer Aufgaben; die Entwicklung der nationalen Industrie und des Binnenmarktes erfordern die nationale Vereinigung und Emanzipation sowie eine Bodenreform. Die nationale Bourgeoisie hat ein objektives Interesse an der Lösung dieser Fragen, um ihre gesellschaftliche Position als herrschende Klasse weiter zu verbessern. Aber bei jeder einzelnen dieser Fragen muss man sich der imperialistischen Unterjochung entgegenstellen. Angesichts ihrer Schwäche gegenüber den Imperialisten ist die nationale Bourgeoisie in ihrem Widerstand gegen ausländisches Kapital mehr oder weniger gezwungen, sich auf das Proletariat und die ganze Nation zu stützen. Gleichzeitig ist sie sich als besitzende Klasse bewusst, dass das Proletariat eine Bedrohung ihrer Interessen darstellt. Um diese zu schützen, ist sie gezwungen, sich auf die Imperialisten zu stützen, mit denen sie durch tausend Fäden verbunden ist. Dazu unfähig, eine unabhängige Rolle zu spielen, balanciert daher die nationale Bourgeoisie zwischen diesen beiden mächtigeren Kräften. Trotzki erklärt:

„In den industriell rückständigen Ländern spielt das ausländische Kapital eine entscheidende Rolle. Daher die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zum nationalen Proletariat. Das schafft besondere Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung schwankt zwischen ausländischem und inländischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ starken Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen bonapartistischen Charakter von besonderer Ausprägung. Sie erhebt sich gewissermaßen über die Klassen. Tatsächlich kann sie entweder regieren, indem sie sich zum Instrument des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder indem sie mit dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, ihm Zugeständnisse zu machen und so die Möglichkeit einer gewissen Freiheit gegenüber den ausländischen Kapitalisten zu erlangen.“

– „Verstaatlichte Industrie und Arbeitermanagement“ (Mai 1939)

Angetrieben von den Werktätigen im eigenen Land und bei einem günstigen internationalen Kräfteverhältnis kann die nationale Bourgeoisie Verstaatlichungen, Landreformen und andere fortschrittliche Maßnahmen gegen die Imperialisten durchführen, um die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen und die nationale Wirtschaft zu entwickeln. Die Verstaatlichung des Erdöls 1938 in Mexiko unter Lázaro Cárdenas oder die Übernahme des Suezkanals 1956 durch Gamal Abdel Nasser in Ägypten sind klassische Beispiele für diesen Prozess. Aber die Bourgeoisie führt solche Maßnahmen für ihre eigenen Ziele und mit ihren eigenen Methoden durch. Sie will sich an der Spitze des nationalen Befreiungskampfes behaupten, um die sozialen und wirtschaftlichen Bestrebungen der Unterdrückten zu kanalisieren und in den Grenzen zu halten, die für ihre Klassenherrschaft akzeptabel sind, und damit ihre eigene Position als halb herrschende Klasse gegenüber den Imperialisten zu verbessern.

Die Bourgeoisien der unterjochten Länder sind sich völlig darüber im Klaren, dass ein ernsthafter Kampf gegen den Imperialismus eine revolutionäre Erhebung der Massen erfordert, die für die nationale Bourgeoisie selber eine Bedrohung wäre. Trotzki schrieb:

„Eine demokratische und nationale Befreiungsrevolution kann der Bourgeoisie eine Steigerung der Ausbeutungsmöglichkeiten verheißen. Ein selbständiges Auftreten des Proletariats in der Arena der Revolution droht ihr die Ausbeutungsmöglichkeiten überhaupt zu entreißen.“

Die Dritte Internationale nach Lenin (1928)

Wenn die Bourgeoisie die Massen hinter sich mobilisiert, muss sie die strikte Kontrolle über sie behalten – sie muss revolutionäre Parteien zerschlagen; die Gewerkschaften durch die Gewerkschaftsbürokratie und manchmal durch die direkte Integration in den Staat im eisernen Griff halten; die Schaffung von staatlich kontrollierten Bauernorganisationen fördern usw. Ob Klassenkampf, Landbesetzungen oder Versuche zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften und Bauernorganisationen – auf jeden Versuch der Massen zur unabhängigen antiimperialistischen Aktion reagiert sie mit blutiger Unterdrückung. Gerade durch die Unterdrückung der einzigen Kraft, die eine echte nationale Emanzipation und Modernisierung herbeiführen kann – die mit der Bauernschaft verbündete Arbeiterklasse –, verhindert die nationale Bourgeoisie nicht nur eine soziale Revolution, sondern sie sabotiert auch den antiimperialistischen Kampf auf Schritt und Tritt, verrät ihn und bahnt der imperialistischen Reaktion den Weg. Weil die nationale Bourgeoise an das kapitalistische Eigentum gebunden ist und ihre Klasseninteressen gegen die proletarischen Massen verteidigen muss, ist sie nicht nur unfähig, die Aufgaben der nationalen Emanzipation und der Agrarrevolution zu lösen, sondern spielt in diesem Prozess auch eine durch und durch reaktionäre Rolle.

Nur das Proletariat, das die Bauernmassen und das städtische Kleinbürgertum hinter sich schart, ist in der Lage, das Joch des ausländischen Kapitals zu zerbrechen, die Agrarrevolution zu Ende zu führen und vollständige Demokratie für die Werktätigen in der Form einer Arbeiter- und Bauernregierung zu errichten. Im Hinblick auf Russland erklärte Trotzki in Die permanente Revolution (1929, Einleitung zur ersten russischen Ausgabe):

„Ich zog daraus die Schlussfolgerung, dass unsere bürgerliche Revolution nur in dem Falle ihre Aufgabe radikal lösen könnte, wenn das Proletariat mit Hilfe der vielmillionenstarken Bauernschaft fähig wäre, die revolutionäre Diktatur in seinen Händen zu konzentrieren.

Was würde der soziale Inhalt dieser Diktatur sein? Als erstes hätte sie die Agrarrevolution und die demokratische Umgestaltung des Staates restlos zu vollziehen. Mit anderen Worten, die Diktatur des Proletariats wäre ein Mittel, die Aufgaben der historisch verspäteten bürgerlichen Revolution zu lösen. Darauf aber könnte die Sache sich nicht beschränken. Zur Macht gelangt, würde das Proletariat gezwungen sein, immer tiefer einzugreifen in die Beziehungen des Privateigentums überhaupt, d. h. den Weg sozialistischer Maßnahmen zu beschreiten.“

Die Machteroberung des Proletariats in einem Land ist nicht die Vollendung der Revolution, sondern erst ihr Anfang. Um rückständige Länder zu modernisieren, eine nationale Industrie und einen nationalen Markt zu entwickeln, die Massen aus dem Elend zu befreien, für all das braucht man das höchste Niveau an Technologie und Produktivität und Zugang zum Weltmarkt – die internationale Arbeitsteilung. Doch das alles ist unter der Kontrolle des Imperialismus. Solange der Weltimperialismus besteht, sind die Errungenschaften eines einzelnen Landes weiterhin der ständigen Gefahr ausgesetzt, durch den Imperialismus erstickt und rückgängig gemacht zu werden. Der Sieg der neokolonialen Revolution und die Entwicklung des Sozialismus erfordern die Niederlage des Imperialismus auf Weltebene, d. h. die Ausweitung der Revolution auf die imperialistischen Zentren.

In den unterjochten Ländern besteht der erste Schritt zu diesem Ziel darin, revolutionäre Parteien zu schmieden, deren Hauptaufgabe es ist, der nationalen Bourgeoisie die Führung des antiimperialistischen Kampfes zu entreißen. Dies lässt sich nur dadurch erreichen, dass man den Kampf für die nationale Befreiung bis zur letzten Konsequenz vorantreibt und dabei den Massen jedes Schwanken, jede Kapitulation und jeden Verrat der Bourgeoisie vor Augen führt. Die Beschlagnahmung des Vermögens der Imperialisten, nicht zuletzt ihrer Banken; die Enteignung der in- und ausländischen Grundbesitzer; die Nichtanerkennung der Schulden und jedes „Freihandelsabkommens“ – jede konsequente Aktion, die den Kampf gegen die imperialistische Sklaverei vorantreibt, bringt die Massen in Gegensatz zur Bourgeoisie. Wie Trotzki feststellte, findet diese Klasse „immer starken Rückhalt beim Imperialismus, der ihr noch jedes Mal mit Geldern, Waren und Granaten gegen die chinesischen Arbeiter und Bauern geholfen hat“ („Die chinesische Revolution und die Thesen des Genossen Stalin“, Mai 1927). Er erklärte:

„Doch alles, was die unterjochten und niedergehaltenen Massen der Werktätigen aktiviert, drängt die nationale Bourgeoisie Chinas unweigerlich in einen militärischen Block mit dem Imperialismus. Der Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und den Arbeiter- und Bauernmassen wird durch das imperialistische Joch nicht abgeschwächt, sondern verschärft sich bei jedem ernsteren Konflikt bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.“

Gleichzeitig, wenn die Bourgeoisie versucht, von den Imperialisten Zugeständnisse zu erlangen, unterstützen Revolutionäre solche Maßnahmen unter Beibehaltung ihrer vollen organisatorischen und politischen Unabhängigkeit und versuchen, das Proletariat und die Bauernschaft dafür zu mobilisieren, diese Maßnahmen für ihre eigenen Ziele und mit ihren eigenen Methoden durchzuführen:

Verstaatlichungen?

Keine Entschädigung! Besetzt die Fabriken, Bergwerke und Eisenbahnen, bis die Imperialisten nachgeben!

Bürokratische, begrenzte Landreform?

Bauernkomitees, die das Land beschlagnahmen!

Imperialistische Drohung mit „Regimewechsel“?

Bewaffnet die Arbeiter und Bauern!

In jedem Fall treten die Trotzkisten im Verlauf des Kampfes für die unabhängige Aktion der Massen ein, um den Einfluss der nationalistischen Bourgeoisie zu brechen.

Um den Einfluss der Bourgeoisie zu bekämpfen, ist es von entscheidender Bedeutung, den Nationalismus zu bekämpfen, das wichtigste ideologische Instrument, das sie einsetzt, um für ihre Interessen das Proletariat und die Unterdrückten hinter sich zu sammeln. Der Nationalismus wiegelt das Proletariat gegen nationale Minderheiten auf, gegen seine Klassenbrüder und -schwestern aus anderen unterdrückten Nationen und, was von entscheidender Bedeutung ist, gegen die Arbeiterklasse der unterdrückenden Nation und verhindert so die revolutionäre Einheit im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Imperialisten. Um die Massen vom Nationalismus zu brechen, ist es jedoch notwendig, zwischen dem Nationalismus der Unterdrücker als Ausdruck des imperialen Chauvinismus und dem Nationalismus der Unterdrückten als Reaktion auf die Unterdrückung zu unterscheiden. Diesen Unterschied zu leugnen bedeutet, den Wunsch der Massen nach Emanzipation abzulehnen. Nationalismus lässt sich nicht dadurch besiegen, dass man einen abstrakten Internationalismus predigt. Er kann nur im Kampf überwunden werden, indem man den Verrat der nationalen Bourgeoisie im Kampf für die Emanzipation aufzeigt.

Die Interessen des Proletariats erfordern die volle Solidarität der Arbeiter aller Nationen. In den imperialistischen Ländern müssen die revolutionären Parteien dem Proletariat das Verständnis vermitteln, dass die Emanzipation der unterjochten Nationen in seinem eigenen objektiven Interesse liegt: Jede Niederlage der Imperialisten im Ausland stärkt die Position des Proletariats im eigenen Land. Trotzkisten müssen für einen Bruch mit den Sozialchauvinisten in den Reihen der Arbeiterbewegung kämpfen – den Verteidigern der NATO und der Europäischen Union, den Gewerkschaftsbürokraten in Nordamerika, die den „Freihandels“-Pakt USMCA unterstützen – und mit den Zentristen, die an der Einheit mit den Sozialchauvinisten festhalten. Nur so können Misstrauen und nationalistische Vorurteile in den Neokolonien überwunden werden. Der Hauptfeind steht im eigenen Land! Schmeißt die proimperialistischen Gewerkschaftsbürokraten raus! Für Arbeiterrevolution in den imperialistischen Zentren!

Die revolutionären Parteien in den unterdrückten Nationen müssen, indem sie den Kampf gegen die imperialistische Unterdrückung führen, die werktätigen Massen im Geiste der revolutionären Einheit mit dem Proletariat der unterdrückenden Nationen erziehen. Die Einheit der unterdrückten Nationen gegen den Imperialismus kann nicht unter der Ägide der käuflichen Kompradoren-Bourgeoisien verwirklicht werden, für die „Patriotismus“ die Verteidigung ihres Privateigentums bedeutet. Sie kann nur unter der Führung der mit der Bauernschaft verbündeten Arbeiterklasse erreicht werden. Beschlagnahmt alles Eigentum der Imperialisten! Land in Bauernhand! Für nationale und soziale Befreiung!

Die Erfahrung hat gezeigt, dass bäuerliche Guerillabewegungen unter außergewöhnlichen Umständen in der Lage sind, den Imperialismus in einem einzelnen Land zu besiegen und die nationale Bourgeoisie zu enteignen (z. B. China, Kuba, Laos, Vietnam). Der Sieg solcher Bewegungen kann jedoch zu nichts mehr als der Errichtung bürokratischer Regime stalinistischer Prägung führen, die ihre Herrschaft durch brutale Unterdrückung der arbeitenden Massen aufrechterhalten, während das Land weiterhin dem Druck des Weltmarktes ausgesetzt ist. Das Markenzeichen dieser stalinistischen Bürokratien ist ihr entschiedener Widerstand gegen die Ausweitung der sozialistischen Revolution über ihre nationalen Grenzen hinaus, in der illusorischen Hoffnung, den Imperialismus zu beschwichtigen. Zur Verteidigung und Ausweitung der Errungenschaften dieser Revolutionen ist eine neue Revolution gegen diese Bürokraten erforderlich. Daher gelten die oben dargelegten Aufgaben der Revolutionäre auch für diese Gesellschaften: Trotzkisten müssen den Bürokraten die Führung des antiimperialistischen Kampfes entreißen und ihn unter dem Banner des authentischen Leninismus führen. Verteidigt China, Nordkorea, Laos, Kuba und Vietnam gegen Imperialismus und Konterrevolution! Für politische Revolution gegen die stalinistischen Verräter! Für den Kommunismus von Lenin und Trotzki!

Nur die Verschmelzung des Kampfes des Proletariats in den imperialistischen Ländern gegen die „eigene“ herrschende Klasse mit dem Kampf der Werktätigen der unterdrückten Nationen gegen eben diese Imperialisten und ihre Stellvertreter vor Ort kann den endgültigen Sieg über den Imperialismus sichern.

Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!

DIE REVISION DER PERMANENTEN REVOLUTION DURCH DIE IKL

Von Geburt an deformiert

Seit ihrer Gründung beruhte das Herangehen der Spartacist-Tendenz an das Problem der Revolution in neokolonialen Ländern und unterdrückten Nationen auf einer Revision der permanenten Revolution. Um zu verstehen, wie und warum das der Fall war, ist es notwendig, den historischen und politischen Kontext zu betrachten, in dem unsere Tendenz ihre Herangehensweise entwickelt hat.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war durch einen Aufschwung nationaler Befreiungskämpfe gekennzeichnet, der durch den Zusammenbruch des britischen und des französischen Kolonialreichs und die gestärkte Autorität der UdSSR nach ihrem Sieg über Nazideutschland angespornt wurde. Die Welt war zwischen zwei Supermächten geteilt, die zwei rivalisierende Gesellschaftssysteme repräsentierten: die UdSSR und der US-Imperialismus. In dieser Situation hatten die unterdrückten Länder Spielraum zu lavieren, und viele erhofften sich von der Sowjetunion militärische und politische Unterstützung bei ihrem Kampf gegen den Imperialismus. Bis Ende der 1970er-Jahre erschütterten Revolten die neokoloniale Welt: China, Korea, Indochina, Indien, Zypern, Algerien, Kuba, die arabische Welt, Chile usw. An der Spitze dieser Bewegungen standen bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte. In den meisten Fällen war das Ergebnis die formale Unabhängigkeit unter bürgerlich-nationalistischer Herrschaft, während das Joch der imperialistischen Unterdrückung bestehen blieb.

In dieser ganzen Zeit bestand die Strategie fast der gesamten marxistischen Linken international darin, die nationalistischen Führungen dieser Bewegungen und ihre Regime offen oder kritisch zu unterstützen. Die Rechtfertigung lautete, dass der nationalen Bourgeoisie durch die imperialistische Unterdrückung der Kolonien und Neokolonien eine objektiv fortschrittliche Rolle zukomme und dass der Sieg der nationalistischen Kräfte der Verwirklichung der bürgerlich-demokratischen Revolution gleichkommt und damit den Weg zum Sozialismus freimache. Mit dem Argument, dass der „objektive Prozess“ die bürgerlichen und kleinbürgerlichen nationalistischen Führungen unweigerlich zum Sozialismus treiben würde, wurde die Rolle der Revolutionäre darauf reduziert, sie nach links zu drängen. Das war der theoretische Rahmen der stalinistischen Parteien und ihrer maoistischen Abspaltungen, der Neuen Linken und der Pseudotrotzkisten. (Michel Pablo, ehemaliger Führer der Vierten Internationale, endete als Berater der algerischen bürgerlichen Regierung von Ben Bella.)

Damit wurde eine revolutionäre Führung des nationalen Befreiungskampfes völlig abgelehnt. Wenn der „objektive Prozess“ zur Befreiung und zum Sozialismus führen würde, bräuchte man keine revolutionären Parteien. In Wirklichkeit bedeutete dies, das Proletariat und die Bauernmassen an die nationale Bourgeoisie zu fesseln und den antiimperialistischen Kampf und die sozialistische Revolution zu verraten. Für Revolutionäre ging es darum, ein Programm aufzustellen zur unabhängigen Aktion der werktätigen Massen für ihre Bedürfnisse und Bestrebungen, um dadurch den antiimperialistischen Kampf voranzutreiben und sich in diesem Prozess an ihre Spitze und den Nationalisten und Stalinisten entgegenzustellen. Nur auf dieser Grundlage war es möglich, das klassenkollaborationistische Programm der Linken als Hindernis für den Sieg über den Imperialismus zu entlarven und einen Prozess von Spaltungen und Fusionen einzuleiten für den Aufbau einer authentischen trotzkistischen Strömung.

Die Spartacist-Tendenz hat jedoch diesen Weg nicht eingeschlagen. Angesichts der bürgerlichen Führung der nationalen Befreiungskämpfe und einer Linken, die dem Nationalismus hinterherlief, zogen wir eine rigide und sektiererische Linie, indem wir den Nationalismus in der neokolonialen Welt als durch und durch reaktionär verurteilten. Ausgehend von einem richtigen Impuls, das Liquidatorentum der Linken abzulehnen, landeten wir kriminellerweise dabei, den Kern der permanenten Revolution zurückzuweisen: den Kampf für nationale Befreiung in den Mittelpunkt der revolutionären Strategie für die neokoloniale Welt zu stellen. Abgesehen von orthodoxen Phrasen, die die permanente Revolution zusammenfassten, stellten wir die nationale Befreiung dem Klassenkampf und der sozialistischen Revolution entgegen. Damit lehnten wir den Kampf um eine kommunistische Führung des nationalen Befreiungskampfes systematisch ab und stärkten so den Einfluss der Nationalisten und der kleinbürgerlichen Kräfte auf die Massen. Dieser allgemeine Rahmen lief im Grunde auf eine Kapitulation vor dem Imperialismus hinaus.

Nationale Befreiung: Dorn im Auge oder Hebel zur Revolution?

Hier sind zwei klassische Beispiele für die Sicht der Spartacist-Tendenz auf die nationale Frage:

„Im allgemeinen drückt sich unsere Unterstützung für das Recht auf Selbstbestimmung negativ aus: unerbittliche Opposition gegen jede Manifestation nationaler Unterdrückung, dies als Mittel, die Einheit der Arbeiterklasse herzustellen, nicht aber als Erfüllung der ,offenkundigen Bestimmung‘ oder der ,Erbschaft‘ einer Nation, noch als Unterstützung für ,progressive‘ Nationen oder Nationalismus. Wir unterstützen das Recht auf Selbstbestimmung und kämpfen für die nationale Befreiung, um die nationale Frage von der historischen Tagesordnung streichen zu können, nicht um eine weitere solche Frage zu schaffen.“

– „Thesen über Irland“, Spartacist (deutschsprachige Ausgabe) Nr. 6, Juni 1978

Und:

„In unterdrückten Nationen innerhalb multinationaler Staaten hängt die Frage, ob man für die Unabhängigkeit eintritt oder nicht, von der Tiefe der nationalen Gegensätze zwischen den arbeitenden Menschen der verschiedenen Nationen ab. Wenn die Beziehungen so vergiftet sind, dass eine echte Klasseneinheit innerhalb einer einzigen Staatsmacht unmöglich ist, unterstützen wir die Unabhängigkeit als einzige Möglichkeit, die nationale Frage von der Tagesordnung zu streichen und die Klassenfrage in den Vordergrund zu stellen.“

– „Quebec Nationalism and the Class Struggle“, Spartacist Canada Nr. 12, Januar 1977

Diese Herangehensweise an die nationale Frage beruhte darauf, sie nicht als einen Hebel für die sozialistische Revolution zu sehen, sondern als ein lästiges Problem, das man beseitigen muss, um dem „reinen“ Klassenkampf den Weg zu ebnen. Das hat nichts mit Marxismus zu tun. Das Herangehen von Revolutionären besteht darin, jede Unterdrückung, jede Krise, jeden Akt des Widerstands zu nutzen, um die Einheit der Arbeiterklasse im Kampf zum Sturz der Bourgeoisie zu schmieden. In dieser Hinsicht stellt der Widerstand gegen die Fremdherrschaft in den unterdrückten Ländern einen mächtigen Hammer zur Zerschlagung des Weltimperialismus dar. Doch anstatt den Kampf für den Sozialismus auf der Grundlage der tatsächlich stattfindenden sozialen und nationalen Kämpfe voranzutreiben, versuchte die Spartacist-Tendenz auf sektiererische und doktrinäre Weise, ihre eigene idealisierte Version des Klassenkampfes, die von allen nationalen „Unannehmlichkeiten“ gereinigt war, auf die lebendige Realität zu projizieren.

Eine solche Herangehensweise an die nationale Frage ist kein Novum in der Geschichte der kommunistischen Bewegung. Lenin kämpfte sein ganzes Leben lang dagegen an, insbesondere gegen jene sogenannten Sozialisten, die den Dubliner Osteraufstand von 1916 mit Verachtung betrachteten und als bloßen „Putsch“ abtaten. In „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“ (Juli 1916) hat Lenin dem irischen Aufstand einen Abschnitt gewidmet (den wir nachgedruckt haben, ohne zu merken, dass dessen gesamter Inhalt uns galt). Er erklärte:

„Die Auffassungen der Gegner der Selbstbestimmung führen zu der Schlussfolgerung, dass die Lebensfähigkeit der kleinen, vom Imperialismus unterdrückten Nationen schon erschöpft sei, dass sie dem Imperialismus gegenüber keinerlei Rolle spielen könnten, dass die Unterstützung ihrer rein nationalen Bestrebungen zu nichts führen werde u. dgl. m.“

Wir lehnten zwar das Selbstbestimmungsrecht nicht ab, aber unser ganzes Herangehen war von der Vorstellung geprägt, dass bei dem „nationalen Problem“ nichts Gutes herauskommen würde. Lenin schreibt weiter:

„Wer einen solchen Aufstand einen Putsch nennt, ist entweder der schlimmste Reaktionär oder ein hoffnungsloser Doktrinär, der unfähig ist, sich die soziale Revolution als eine lebendige Erscheinung vorzustellen.

Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Sozialismus‘, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Imperialismus‘, und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen ,Putsch‘ zu schimpfen.

Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“

Ist denn die Methode, die nationale Frage von der „historischen Agenda“ zu „streichen“, etwas anderes, als eine „reine“, von den nationalen Gefühlen der unterdrückten Völker „unbefleckte“ Revolution zu erwarten?

Die sozialistische Revolution ist nicht ein einzelner Kampf, sondern eine Reihe von Kämpfen um eine Vielzahl von demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Der Versuch, in den Ländern, die unter dem Joch der Fremdherrschaft stehen, die nationale Frage als Voraussetzung für den sozialistischen Kampf „wegzuräumen“, leugnet, dass bei dem vom Imperialismus aufgezwungenen Zustand der Unterentwicklung die demokratischen Aufgaben objektiv als der wesentliche Hebel zur sozialistischen Revolution in den Vordergrund rücken. Der Kern der permanenten Revolution – und die zentrale Lehre der Oktoberrevolution von 1917 – besteht darin, dass die bürgerlich-demokratische Revolution, die vom revolutionären Proletariat an der Spitze der Bauernschaft und aller Unterdrückten verwirklicht wird, in die sozialistische Revolution übergeht. Trotzki erklärte:

„Die Diktatur des Proletariats, das als Führer der demokratischen Revolution zur Herrschaft gelangt ist, wird unvermeidlich und in kürzester Frist vor Aufgaben gestellt sein, die mit weitgehenden Eingriffen in die bürgerlichen Eigentumsrechte verbunden sind. Die demokratische Revolution wächst unmittelbar in die sozialistische hinein und wird dadurch allein schon zur permanenten Revolution.“

– Die permanente Revolution

Im Gegensatz dazu bestand unser ganzes Herangehen darin, darüber nachzudenken, wie diese oder jene demokratische Frage von der Tagesordnung „entfernt“ werden könnte. Dies erwies sich jedoch als komplizierter in Regionen mit vermischten Völkern wie Nordirland oder Israel/Palästina, wo zwei nationale Gruppen konkurrierende Ansprüche auf Selbstbestimmung über dasselbe Territorium erheben. Die Spartacist-Tendenz schuf daher eine „Theorie“ für Fälle von vermischten Völkern. Unser grundlegender Artikel zur Frage Israel/Palästina postulierte:

„Es war klar, dass die Schaffung eines unabhängigen Nationalstaates in Palästina, ob durch palästinensische Araber oder Juden, nur auf Kosten der jeweils anderen Nation geschehen würde. Wenn nationale Bevölkerungen geografisch vermischt sind, wie in Palästina, kann ein unabhängiger Nationalstaat nur durch ihre gewaltsame Trennung geschaffen werden (Zwangsumsiedlungen usw.). So wird das demokratische Recht auf Selbstbestimmung abstrakt, da es nur dadurch ausgeübt werden kann, dass die stärkere nationale Gruppierung die schwächere vertreibt oder zerstört.

In solchen Fällen besteht die einzige Möglichkeit einer demokratischen Lösung in einer sozialen Transformation.“

– „Die Geburt des zionistischen Staates“, Spartakist Nr. 159, Sommer 2005 (übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 45, 24. Mai 1974)

Es war offensichtlich unmöglich, die nationale Frage in Orten wie Belfast oder Gaza von der Tagesordnung zu „streichen“. Also haben wir die Notwendigkeit einer Revolution proklamiert. Aber es bleibt die Frage: Wie kann es dort zu einer Revolution kommen? Das ganze Programm hinter der „Theorie“ vermischter Völker bestand darin, die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution zu verkünden und es gleichzeitig abzulehnen, dass man den nationalen Befreiungskampf der Palästinenser und irischen Katholiken in den Mittelpunkt unserer revolutionären Strategie stellen muss. Stattdessen wird die sozialistische Revolution als ein Prozess betrachtet, in dem beide nationalen Gruppen ihre nationalen Gefühle aufgeben zugunsten von Einheit über wirtschaftliche Forderungen und liberaler Solidarität.

Jeder „Marxist“, der meint, der nationale Befreiungskampf sei für die Revolution ein Dorn im Auge und müsse beiseitegeschafft werden, um für den Sozialismus kämpfen zu können, ist bestenfalls zur Bedeutungslosigkeit verurteilt oder schlimmstenfalls ein Agent des herrschenden Unterdrückers, der als Vorbedingung für die Einheit verlangt, dass die Unterdrückten ihre nationalen Bestrebungen aufgeben. Zu einer Revolution in Israel/Palästina oder in Nordirland kann es nur kommen durch einen revolutionären Aufstand für die nationale Befreiung der Palästinenser und der irischen Katholiken, der auch die protestantischen und israelischen Arbeiter von ihrer herrschenden Klasse und den imperialistischen Hintermännern befreit, ohne ihre nationalen Rechte anzutasten. Gerade weil die irischen und palästinensischen Nationalisten zu einer solchen Perspektive nicht fähig sind und sie ablehnen, kann nur eine kommunistische Führung eine gerechte und demokratische Lösung für das nationale Problem dort herbeiführen.

Als Zeichen völliger Ohnmacht heißt es in der ersten These der „Thesen über Irland“, einem Schlüsseldokument, das unseren Standpunkt zum dortigen nationalen Problem darlegt:

„Es ist sehr gut möglich, dass eine gerechte, demokratische, sozialistische Lösung in Irland nur unter dem Einfluss proletarischer Revolutionen außerhalb Irlands, ja konkret durch die Bajonette einer Roten Armee gegen den Widerstand eines großen Teils einer oder beider Volksgruppen der Insel herbeigeführt werden könnte.“

In unseren Artikeln zu Palästina haben wir immer wieder betont, dass eine Revolution höchstwahrscheinlich nicht möglich sei, solange es keine Revolution in einem Nachbarland gibt. Im Voraus zu erklären, dass wir nicht wirklich an die Möglichkeit einer einheimischen Revolution in Nordirland oder Palästina glauben und dass wir nicht der Ansicht sind, unsere Intervention in diesen Regionen könne eine wichtige und entscheidende Rolle spielen, ist so, als würde man ein Banner hochhalten, auf dem steht: „Wir sind bankrott“.

Die Aufgabe der Kommunisten ist nicht, den Kampf für die nationale Befreiung dem Kampf für den Sozialismus entgegenzustellen, sondern beides miteinander zu verschmelzen. Eine solche Perspektive ist mit der Rigidität und Engstirnigkeit, die für das Herangehen der Spartacist-Tendenz an die nationale Frage typisch waren, nicht denkbar; sie erfordert die Methode und das Programm der permanenten Revolution. Die Anwendung der permanenten Revolution ist nicht auf Länder mit einer Bauernschaft oder einer verspäteten kapitalistischen Entwicklung beschränkt. Die Methode der permanenten Revolution ist ein Dreh- und Angelpunkt des modernen kommunistischen Programms. Die zentrale Lehre, die Marx und Engels aus den Revolutionen von 1848 in Europa zogen, war die Notwendigkeit einer proletarischen Führung der demokratischen und sozialen Kämpfe. Zum Abschluss ihrer „Ansprache der Zentralbehörde an den [Kommunistischen] Bund“ vom März 1850 betonten Marx und Engels:

„[Die Arbeiter] müssen das meiste zu ihrem endlichen Siege dadurch tun, dass sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muss sein: Die Revolution in Permanenz.“

Leninismus kontra IKL über Nationalismus: Permanente Revolution kontra liberale Empörung

Eine zentrale Frage der Revolution für die meisten Länder der Welt ist die Überwindung nationaler Spaltungen. Diese Frage ist besonders komplex in Ländern mit verspäteter Entwicklung, wo die dominierende Nation (oder ethnische oder religiöse Gruppe) zwar vom Imperialismus unterdrückt wird, selbst aber auch der Unterdrücker von Minderheitsnationen ist. Das ist der Fall in Indien, Iran und Türkiye, um nur einige zu nennen. Der folgende, einem Artikel über den Nahen Osten entnommene Text veranschaulicht unser Herangehen an diese Frage:

„Man darf nicht vergessen, dass die palästinensischen Araber Opfer des Nationalismus von Unterdrückten sind, die zu Unterdrückern wurden. Wäre in Birundi [sic] der Putsch der Hutu gegen die herrschende Minderheit der Tutis [sic] erfolgreich gewesen, hätte sich der Tribalismus der Unterdrückten in völkermörderischen Nationalismus der Unterdrücker verwandelt. Jeder Nationalismus ist reaktionär, denn erfolgreicher Nationalismus ist gleichbedeutend mit Völkermord.“

– „Mörderischer Nationalismus und stalinistischer Verrat im Nahen Osten“, Workers Vanguard Nr. 12, Oktober 1972

Damit wird jeder Widerspruch im Nationalismus der dominierenden Nation in unterdrückten Ländern ausgelöscht. Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 ist die Realität des Hutu-Nationalismus. Doch der Hutu-Nationalismus ist grundsätzlich nicht das Gleiche wie der amerikanische oder der französische Nationalismus: Er ist das Produkt der Vergewaltigung dieser Region durch den belgischen, dann den französischen und jetzt den amerikanischen Imperialismus. Er ist zum Teil eine reaktionäre Antwort auf diese Realität. Der Hutu-Tutsi-Konflikt kann außerhalb dieses Verständnisses weder richtig angegangen noch gelöst werden.

Die gleiche Herangehensweise lag unserer Arbeit zur iranischen Revolution von 1979 zugrunde, bei der wir die von den Mullahs angeführte Opposition gegen den Schah mit Hitler und dem Ku-Klux-Klan gleichsetzten!

„In den letzten Wochen vor dem Sturz des blutigen Schah-Regimes scharten sich alle Kräfte der Opposition gegen die Monarchie, einschließlich des organisierten Proletariats und der Linken, um Chomeini. Aber den Kern von Chomeinis Bewegung bildeten die Mullahs (der 180 000 starke schiitische moslemische Klerus) und die Basaris, die traditionelle Händlerklasse, deren Existenz durch die Modernisierung des Landes untergraben wurde. Diese traditionelle soziale Schicht ist durch die ökonomischen Fortschritte zum Untergang verurteilt und so natürlich anfällig für reaktionäre Ideologie und ihre politischen Ausdrucksformen.

Für Opportunisten ist es undenkbar, dass es eine reaktionäre Massenmobilisierung gegen ein reaktionäres Regime geben kann. Aber die Geschichte liefert uns Beispiele von reaktionä- ren Massenbewegungen. Adolf Hitler organisierte fraglos eine Massenbewegung, die die Weimarer Republik stürzte. In den Vereinigten Staaten war der Ku Klux Klan in den zwanziger Jahren eine dynamisch anwachsende Organisation, die fähig war, Zehntausende von Aktivisten auf die Straße zu bringen.“

– „Iran und die Linke: Warum sie die islamische Reaktion unterstützten“, Kommunistische Korrespondenz Nr. 26, September 1979

Die Mullahs sind reaktionär: Das islamische Regime im Iran ist frauenfeindlich, anti-sunnitisch und gegen die nationalen Rechte aller nicht-persischen Völker innerhalb der Grenzen des Irans. Dennoch waren die Mullahs eine reaktionäre Antwort auf die imperialistische Ausplünderung des Iran, die von der Pahlavi-Monarchie erleichtert wurde. Es war unmöglich, die Popularität der Mullahs zu untergraben, ohne diese Realität anzuerkennen. Die Konsequenz unserer Propaganda bestand darin, bei den Teilnehmern des Umsturzes von 1979 zu intervenieren, die Illusionen in die islamistische Führung hatten, indem wir ihnen sagten, dass sie einer Hitler-ähnlichen Bewegung folgten!

Von unserem ganzen Ansatz her leugneten wir die Tatsache, dass der Kampf der persischen Massen, sich aus dem imperialistischen Würgegriff zu befreien, ein fortschrittlicher Kampf war. Unsere Aufgabe bestand darin, zu erklären, dass sich dieser Kampf, solange er von den Mullahs kontrolliert wurde, unweigerlich gegen nationale und andere Minderheiten richten würde, was zu ihrer Verfolgung führen und gleichzeitig die Befreiung der persischen Mehrheit selbst untergraben würde. Die einzige Möglichkeit, den Einfluss der Mullahs zu brechen, bestand darin, konkret aufzuzeigen, wie deren Führung den legitimen und fortschrittlichen Bestrebungen der Massen, sich vom Schah und dem Imperialismus zu befreien, im Wege stand.

Das folgende Zitat von Engels bezieht sich zwar auf die Unterdrückung Polens durch Deutschland, gilt aber in vollem Umfang für Länder wie den Iran, die sowohl unterdrückt als auch Unterdrücker sind:

„Wir deutschen Demokraten haben nämlich ein besonderes Interesse an der Befreiung Polens. Es sind deutsche Fürsten gewesen, die aus der Teilung Polens Vorteil gezogen haben, es sind deutsche Soldaten, die noch jetzt Galizien und Posen unterdrücken. Uns Deutschen, uns deutschen Demokraten vor allem muss daran liegen, diesen Flecken von unsrer Nation abzuwaschen. Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andre Nationen zu unterdrücken. Die Befreiung Deutschlands kann also nicht zustande kommen, ohne dass die Befreiung Polens von der Unterdrückung durch Deutsche zustande kommt. Und darum hat Polen und Deutschland ein gemeinschaftliches Interesse, und darum können polnische und deutsche Demokraten gemeinsam arbeiten an der Befreiung beider Nationen.

– „Über Polen“, 29. November 1847 (Unsere Hervorhebung)

In Ländern wie Iran oder Indien kann es nicht zur Befreiung von der imperialistischen Unterjochung kommen, solange die Minderheitsnationalitäten und -völker in diesen Staaten weiterhin der Unterdrückung durch die dominierende Nation ausgesetzt sind. Letztere hat „ein besonderes Interesse“ an der Befreiung der unterdrückten Minderheiten und muss sich am konsequentesten für sie einsetzen, denn sonst kann ihre eigene Befreiung keinen Schritt vorankommen. Warum? Weil es der Imperialismus ist, der für den Zustand des Elends der Massen verantwortlich ist, und weil es der Imperialismus ist, der die unzähligen Spaltungen herbeigeführt und die Nationen und Völker in willkürliche Grenzen gezwungen hat, müssen Werktätige gemeinsam Widerstand leisten gegen diesen Imperialismus. Es liegt im objektiven Interesse der persischen Arbeiter und Bauern, die in einem Land schuften, das durch imperialistische Sanktionen erstickt wird, sich für die Befreiung ihrer kurdischen, belutschischen und aserischen Brüder und Schwestern als Teil ihres eigenen Befreiungskampfes einzusetzen. Dazu gehört auch das Eintreten für deren Recht auf Selbstbestimmung, d. h. auf Lostrennung.

Je aggressiver die Revolutionäre aus dem dominierenden Volk (z. B. die Türken in Türkiye oder die Perser im Iran) für die nationalen Rechte der unterdrückten Völker in ihrem jeweiligen Land eintreten, desto eher können sie die Teile-und-herrsche-Manöver der Imperialisten durchkreuzen. Das würde den Bestrebungen der USA, die Unterdrückten zum Handlanger des Imperialismus zu machen wie im Fall der syrischen Kurden, einen Strich durch die Rechnung machen.

Das ging überhaupt nicht mit unserer Perspektive zusammen, mit der wir die Tatsache ausblendeten, dass imperialistische Unterdrückung den Nationalismus schürt. Zum Beispiel haben wir bei unserer Arbeit zu Sri Lanka jede Maßnahme des Bandaranaike-Regimes der Sri Lanka Freedom Party als durch antitamilischen Chauvinismus motiviert oder als unbedeutend abgetan und damit geleugnet, dass es auch Maßnahmen gab zur Behauptung der nationalen Souveränität gegen den Imperialismus. In einer Polemik gegen die Unterstützung des Bandaranaike-Regimes durch die chinesische Bürokratie schrieben wir:

„Die Chinesen beschränken sich darauf, die Ausrufung der Republik Sri Lanka, die selbst ein ausdrücklicher und demagogischer Appell an den singhalesischen Chauvinismus ist, als ‚einen bedeutenden Sieg ihres Volkes bei seinem langwierigen Kampf gegen den Imperialismus und für die Wahrung der nationalen Unabhängigkeit‘ zu bezeichnen.“ (Hervorhebung hinzugefügt)

– „Die ‚antiimperialistische Einheitsfront‘ in Ceylon“, Young Spartacus Nr. 19, September/Oktober 1973

Es besteht kein Zweifel, dass das Bandaranaike-Regime antitamilischen Chauvinismus schürte. Doch von dieser richtigen Erkenntnis ausgehend bekämpften wir den singhalesischen Nationalismus, indem wir leugneten, dass er auf seine eigene blutige und reaktionäre Weise eine Antwort auf die britische Vorherrschaft über die Insel war. Das führte uns dazu, sogar die Ausrufung der Republik Sri Lanka, die die Verbindung zur britischen Monarchie kappte, abzulehnen!

Im Fall von Sri Lanka wird jede Verteidigung der Tamilen, die nicht von der Opposition gegen den Imperialismus ausgeht, eine liberale imperialistische Sichtweise widerspiegeln. Dies ist das Drehbuch, nach dem die Imperialisten überall vorgehen: Sie nutzen die Not von Minderheiten aus, um ihre Interessen voranzubringen, wobei sie die Tatsache unter den Teppich kehren, dass die ganze Situation erst durch ihre Vorherrschaft entstanden ist. Das ist in Sri Lanka nicht anders. Mit der Perspektive, die wir hatten, kann ein kleiner Nukleus, der eine revolutionäre Partei werden will, nicht einmal ansatzweise unter den Arbeitern der dominierenden Nation Fuß fassen, sondern er kann nur den Einfluss der Nationalisten auf sie stärken. Und soweit er sich an die unterdrückten Tamilen wendet, wäre diese Perspektive nicht in ihrem Interesse, denn sie würde nicht dazu beitragen, nationale Gegensätze zu überwinden oder einen gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus, den gemeinsamen Unterdrücker von Tamilen und Singhalesen, voranzubringen. Mit anderen Worten, es wäre ein liberal-imperialistisches Programm für die Tamilen (Aufschrei über ihre Unterdrückung) und ein liberal-imperialistisches Programm für die Singhalesen (behandelt die Tamilen besser!) – und in der Tat, das war es dann auch.

In unterdrückten Ländern ist der Chauvinismus der dominanten Nation, der den Minderheiten aufgezwungen wird, zum Teil eine Folge der Schwächung dieser Länder durch die imperialistische Ausbeutung. Je mehr der Kampf gegen den Imperialismus unterdrückt wird, desto mehr wendet sich die dominierende Nation gegen Minderheiten im eigenen Land, seien es nationale, religiöse oder andere. Das liegt im Grunde an der Realität der Länder unter dem Stiefel des Imperialismus: Wenn die materielle Entwicklung nicht auf Kosten der Imperialisten geht, muss sie auf Kosten der Arbeiter und der unterdrückten Minderheiten innerhalb der Neokolonie erfolgen. Der nationalen Bourgeoisie gelingt es, die Wut über die miserablen Zustände und die Unterentwicklung abzulenken, indem sie nationale und religiöse Gefühle ausnutzt und das Land weiter spaltet. Umgekehrt gilt: Je stärker sich die Völker eines unterdrückten Landes gegen den Imperialismus, ihren gemeinsamen Unterdrücker, stellen, desto enger ist die Einheit zwischen ihnen und desto schwächer ist der Chauvinismus der dominierenden Gruppe.

Der Hauptfeind ist der Imperialismus

Die Spartacist-Tendenz versuchte den bürgerlichen Nationalismus mit dem Argument zu bekämpfen, dass in den Neokolonien und unterdrückten Nationen die nationale Bourgeoisie der Hauptfeind der Arbeiter und Unterdrückten sei. Über Mexiko, das direkt unter dem Stiefel des US-Imperialismus steht und dessen gesellschaftliches Leben in jeder Hinsicht von dieser Unterdrückung bestimmt wird, schrieben wir: „Wir Spartakisten bestehen darauf, dass in Mexiko der Hauptfeind im eigenen Land steht: Es ist die mexikanische Bourgeoisie, ein Lakai des Imperialismus“ („Mexiko: NAFTAs Mann geht gegen die Arbeiterbewegung vor“, Workers Vanguard Nr. 748, 15. Dezember 2000). In einem Artikel über Nordirland mit der hirnrissigen Überschrift „Nicht Grün gegen Orange, sondern Klasse gegen Klasse!“ (Workers Vanguard Nr. 7, April 1972) belehren wir:

„Alle Kapitalisten sind die Feinde aller Arbeiter überall, aber der Hauptkampf der Arbeiter in einer Nation muss immer gegen die eigene Bourgeoisie gerichtet sein – nur so geben sie ihren Klassenbrüdern in anderen Ländern das ernsthafte Versprechen ihres Internationalismus, dass sie nicht auf der Seite ihrer eigenen Kapitalisten gegen die Arbeiter anderer Länder stehen und dabei ihren Standpunkt mit klassenkämpferischen Phrasen verschleiern.“

Mit „Klassenunabhängigkeit“ als Ausgangspunkt leugnet dieses bornierte Argument, dass der Hauptfeind in den neokolonialen Ländern der Imperialismus ist und nicht die schwache nationale Bourgeoisie, die, wie wir selbst feststellten, auf die Rolle eines bloßen Lakaien reduziert ist. Die Nationalisten und verschiedene linke Gruppen nutzen diese Wahrheit, um ihre Unterstützung für die nationale Bourgeoisie zu rechtfertigen. Aber ein Minus zu setzen, wo die Nationalisten ein Plus setzen, bringt den Kampf, die Massen vom Nationalismus zu brechen, nicht voran. Im Gegenteil, ein solches Herangehen kann die Kommunisten in den Augen der Arbeiter und Bauern nur diskreditieren und die Nationalisten als die einzigen Vertreter der nationalen Bestrebungen der Massen gegen die Fremdherrschaft aufbauen. Es ist einfach eine Kapitulation vor dem Imperialismus.

In den letzten Jahrzehnten hat die IKL darauf verzichtet, „der Hauptfeind steht im eigenen Land“ für Mexiko zu benutzen. Genosse Jim Robertson argumentierte Anfang der 2000er-Jahre, dass wir angesichts der nackten Ausplünderung Mexikos durch die USA aufhören sollten, diese Losung aufzustellen. Aber der Inhalt dieser Losung blieb das Prinzip, das als Grundlage für unsere Arbeit dort diente. Zum Beispiel argumentierte Genosse Ed C. zwar kurz nach dieser Intervention, dass unsere Aufgabe in Mexiko darin bestehe, „die Nation im Kampf gegen die imperialistische Vorherrschaft zu führen“. Aber er wurde in einem Antrag von der Führung unserer amerikanischen Sektion scharf verurteilt:

„Was Mexiko betrifft, so wäre eine Arbeiterpartei, die sich nicht von einer revolutionären, internationalistischen, proletarischen Perspektive leiten lässt, sondern stattdessen sich zur Hauptaufgabe macht, die Nation im Kampf gegen die imperialistische Vorherrschaft zu führen, eine Partei, die vor der Erfüllung ihres proletarischen Programms zurückschreckt – d.h. sie wäre zumindest stillschweigend menschewistisch. Für eine solche Partei gäbe es keinen Grund, an ihrer Klassenunabhängigkeit festzuhalten.“

Das ist nicht nur eine totale Ablehnung der permanenten Revolution, sondern in Wirklichkeit eine umgekehrte Version des Stalinismus, der im Namen des Kampfes gegen den Imperialismus das Proletariat einem Bündnis mit der Bourgeoisie unterordnet. Der oben zitierte Antrag gibt im Namen der Klassenunabhängigkeit den Kampf gegen den Imperialismus ganz und gar auf. Ob Stalinismus oder Politisches Büro der Spartacist League/U.S., das Ergebnis ist das Gleiche: Der Kampf gegen den Imperialismus bleibt in den Händen der bürgerlichen Nationalisten. Diese Konferenz bekräftigt, dass es die Aufgabe der Kommunisten in den Neokolonien ist, „die Nation im Kampf gegen die imperialistische Vorherrschaft zu führen“.

Die nationale Entwicklung unterdrückter Nationen ist historisch fortschrittlich

Die Entwicklung des Nationalstaates in Europa vom 17. bis zum 19. Jahrhundert spielte eine fortschrittliche Rolle dabei, feudale Strukturen hinwegzufegen und den Kapitalismus zu konsolidieren. Doch im Zeitalter des Imperialismus ist das Kapital über die Grenzen des Nationalstaates hinausgewachsen. Imperialismus bedeutet die Ausweitung und Vertiefung der nationalen Unterdrückung auf einer neuen historischen Grundlage. Während also der fortschrittliche Charakter der nationalen Bewegungen in den imperialistischen Ländern der Vergangenheit angehört, spielen in den unterdrückten Ländern die nationalen Bewegungen sowie die Entwicklung und Festigung des Nationalstaats immer noch eine historisch fortschrittliche Rolle, sofern sie sich gegen die imperialistische Unterdrückung richten.

Im Gegensatz zu dieser grundlegenden marxistischen Wahrheit behauptete die Spartacist-Tendenz, dass nationale Konsolidierung und Vereinigung heute überall reaktionär sind. Dies war einer der politischen Grundpfeiler unserer südafrikanischen Sektion und einer der zentralen Punkte in Polemics on the South African Left, einem ihrer Gründungsdokumente. In unserer Polemik gegen schwarze Nationalisten argumentierten wir, dass zwar die nationale Assimilation in Europa vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine fortschrittliche Entwicklung war:

„Aber heute in Afrika und Asien sind die schwachen einheimischen Bourgeoisien, die vom Imperialismus in Abhängigkeit und in Ketten gehalten werden, nicht imstande, diese neokolonialen Staaten in moderne Industriegesellschaften zu verwandeln. Daher wird ‚Nationenbildung‘ zum Synonym für die Unterdrückung nationaler und ethnischer Gruppen durch das dominierende Volk.“

– „Brief an New Unity Movement“ (28. Februar 1994)

Südafrika ist ein vom Imperialismus brutal unterdrücktes Land, in dem eine winzige Clique weißer Kapitalisten über die schwarzen Massen herrscht, die gewaltsam auf Bantustans aufgeteilt wurden – Territorien, die von den Apartheid-Herrschern eingerichtet wurden, um Schwarzafrikaner aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu trennen. Wie überall auf dem Kontinent wurden auch die Grenzen Südafrikas von den kolonialen Unterdrückern künstlich gezogen, die dann ein System der strengen Segregation entwickelten, um über die superausgebeuteten schwarzen Arbeitskräfte die Kontrolle zu haben. Die Bestrebungen der schwarzafrikanischen Völker nach Nationenbildung und Einheit gegen ihre erzwungene Teilung abzulehnen war schlicht reaktionär und stellte uns auf die Seite des tatsächlich „dominierenden Volks“: der weißen südafrikanischen herrschenden Klasse, die von den Imperialisten unterstützt wird. Für die Schmiedung einer revolutionären Partei in Südafrika kommt es entscheidend darauf an, für kommunistische Führung im Kampf für Nationenbildung zu kämpfen und dabei aufzuzeigen, wie die schwarzen Nationalisten auf diesem Weg ein Hindernis sind.

Um in Mexiko gegen die weit verbreiteten Illusionen in Cárdenas und den Populismus anzugehen, griff die Sektion der IKL, die Grupo Espartaquista de México, darauf zurück, Cárdenas einfach anzuprangern. Wir haben ihn dafür angegriffen, dass es „seine Absicht war, das Land zum Nutzen der mexikanischen Bourgeoisie zu modernisieren“, und dass sein Vermächtnis „die Konsolidierung des mexikanischen bürgerlichen Regimes war“ („Mexiko: NAFTAs Mann geht gegen die Arbeiterbewegung vor“). Die nationale Entwicklung Mexikos gegen die imperialistische Unterjochung ist sogar unter bürgerlicher Herrschaft tatsächlich äußerst fortschrittlich. Dies zu leugnen ist ein Bankrott, wie aus unseren eigenen Artikeln klar wird. Wir schrieben:

„Die berühmte ‚sozialistische Erziehung‘, die zwei Monate vor Cárdenas Machtübernahme in der Verfassung verankert wurde, hatte kein anderes Ziel als die Anhebung des Bildungsniveaus der Armen und Arbeiter, um sie für die Lohnarbeit geeigneter und für die Bourgeoisie produktiver zu machen.“

Millionen von Arbeitern und Bauern haben dank dieser Reform lesen und schreiben gelernt. Die Vorstellung, dass sie ihre Illusionen in Cárdenas ablegen würden, weil wir darauf hinwiesen, dass die Reform nur ein Trick war, um sie „für die Lohnarbeit geeignet“ zu machen, ist einfach grotesk. Die einzige Reform unter Cárdenas, die wir nicht anprangern konnten, war die Verstaatlichung des Erdöls und der Eisenbahnen, weil Trotzki sie begrüßt hatte. Wir behaupteten auch, dass die mexikanische Revolution lediglich eine Orgie der Reaktion war und dass sogar die Unabhängigkeit Mexikos von Spanien „einen unverkennbaren Geruch von Konterrevolution hatte“ (siehe den Antrag der GEM-Konferenz, der auf diese Frage in El Antiimperialista Nr. 1, Mai 2023, weiter eingeht).

Marxisten unterstützen und kämpfen für die nationale Entwicklung unterjochter Nationen. Dazu gehört auch die Festigung der nationalen Einheit, soweit sie sich gegen den Imperialismus richtet. Den fortschrittlichen Charakter der nationalen Entwicklung eines unterdrückten Landes unter dem Vorwand zu leugnen, dass die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse ist, ist einfach eine Kapitulation vor dem Imperialismus. Um den Nationalisten entgegenzuwirken, müssen die Kommunisten unter Wahrung völliger Klassenunabhängigkeit fortschrittliche Maßnahmen für die Souveränität und Entwicklung der unterdrückten Länder unterstützen und danach streben, die Massen unabhängig zu mobilisieren, um diese Maßnahmen umzusetzen. Der Aufstand der Arbeiter und Bauern wird unweigerlich deutlich machen, dass Nationalisten wie Cárdenas oder heute López Obrador in Wirklichkeit Feinde der Befreiung der Neokolonien sind und dass die Bestrebungen der Massen nach einer kommunistischen Führung des antiimperialistischen Kampfes schreien.

Trotzkisten sind die besten Kämpfer für Demokratie

Eines der eklatantesten Beispiele dafür, dass wir den Kampf für den Sozialismus dem Kampf für die Demokratie entgegengesetzt haben, ist die 2011 von unserer Tendenz angenommene Linie, die Losung einer verfassungsgebenden Versammlung unter allen Umständen als falsch zurückzuweisen (siehe „Warum wir die Forderung nach einer ‚konstituierenden Versammlung‘ ablehnen“, Spartacist, deutschsprachige Ausgabe Nr. 29, Sommer 2013). Diese Position wurde vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings angenommen, als sich Millionen gegen die jahrzehntelange diktatorische Herrschaft auflehnten und mehrere linke Gruppen auf einer opportunistischen Grundlage die Einberufung verfassungsgebender Versammlungen forderten. Als Kompensation dafür, dass wir für die arabischen Massen keine Perspektive hatten, versteiften wir uns in einer rigiden und sektiererischen Weise darauf, die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung in Gänze zu verurteilen, und setzten im Gegensatz dazu auf … eine sozialistische Revolution.

Um den tiefgehenden Revisionismus dieser Linie zu verstehen, muss man wissen, was die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung ist. Es handelt sich um die Forderung nach einem Gremium, dessen Ziel es ist, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Wie in unserem Artikel erwähnt, geht sie auf die Französische Revolution zurück, als die Nationalversammlung die zentralen demokratischen Aufgaben löste: die Abschaffung der Monarchie, Abschaffung des Feudalismus, Neuverteilung des Bodens und Erweiterung des Wahlrechts für Männer. Es ist also eine demokratische Forderung. In Ländern mit einer verspäteten kapitalistischen Entwicklung ohne formale Demokratie, in denen die Massen entrechtet sind und unter langanhaltender diktatorischer oder bonapartistischer Herrschaft leiden, wie in weiten Teilen des Nahen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas, treibt diese Forderung Millionen an.

Dennoch haben wir sie mit folgendem Argument verworfen:

„Im Unterschied zu den Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Frau, Land für die Bauern, nach allgemeinem Wahlrecht oder der Ablehnung der Monarchie – von denen jede einzelne entscheidend für die Mobilisierung der Massen hinter den Kämpfen des Proletariats sein kann – ist die konstituierende Versammlung keine demokratische Forderung, sie ist vielmehr der Ruf nach einer neuen kapitalistischen Regierung. In Anbetracht des reaktionären Charakters der Bourgeoisie, sowohl in der halbkolonialen Welt wie auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten, kann es kein revolutionäres bürgerliches Parlament geben. Somit steht der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung im Gegensatz zur Perspektive der permanenten Revolution.“ (Unsere Hervorhebung)

Dies ist eine Art von bürgerlichem Rationalismus. Aus der richtigen Prämisse, dass die Bourgeoisie vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte her eine reaktionäre Klasse ist, haben wir abgeleitet, dass die konstituierende Versammlung immer konterrevolutionär ist. Gerade wegen des reaktionären Charakters der Bourgeoisie ist es Aufgabe der Kommunisten, sich an die Spitze des Kampfes für die demokratischen Bestrebungen der Massen zu stellen, um sie zu verwirklichen. Solange die Massen Erwartungen in den bürgerlichen Parlamentarismus haben und in einer verfassungsgebenden Versammlung die Möglichkeit sehen, ihre Bestrebungen voranzubringen, ist es die Pflicht der Revolutionäre, sich hier einzumischen und sich als die konsequentesten Kämpfer für die Demokratie zu erweisen und gleichzeitig den Massen den Bankrott des bürgerlichen Parlamentarismus vor Augen zu führen und die Notwendigkeit einer Räteherrschaft zu begründen. Die Ablehnung der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung bedeutet, die demokratische Revolution in den Händen der Bourgeoisie zu lassen, die die demokratischen Gefühle der Massen nutzen wird, um sie ihren eigenen Klasseninteressen unterzuordnen. So erklärt das Übergangsprogramm von 1938, das Programm der Vierten Internationale:

„Es geht nicht an, das demokratische Programm einfach zu verwerfen: Die Massen müssen im Kampf über dieses Programm hinauswachsen. Die Losung der Nationalen (oder Verfassungsgebenden) Versammlung bleibt in Ländern wie China oder Indien vollauf in Kraft. Diese Losung gilt es, unauflöslich mit den Aufgaben der nationalen Befreiung und der Bodenreform zu verbinden. Zunächst muss man die Arbeiter mit diesem demokratischen Programm ausrüsten. Sie allein können die Bauern aufrütteln und zusammenschließen. Auf der Grundlage des revolutionär-demokratischen Programms gilt es, die Arbeiter in Gegensatz zur ‚nationalen‘ Bourgeoisie zu bringen.

Auf einer gewissen Stufe der Massenmobilisierung unter den Losungen der revolutionären Demokratie können und müssen Räte entstehen.“

Aber die Spartacist-Tendenz wollte direkt zu den Sowjets gehen und vergaß dabei die Notwendigkeit, Arbeiter und Bauern zu vereinigen in Opposition zur nationalen Bourgeoisie!

Das stärkste Argument gegen unsere Ablehnung der Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung ist die Oktoberrevolution von 1917 selbst. Die Logik unseres Arguments besagt, dass die Bolschewiki die erste erfolgreiche Arbeiterrevolution der Geschichte anführten, obwohl sie die Bildung „einer neuen kapitalistischen Regierung“ forderten. Wir nahmen die Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki nach der Errichtung der Sowjetmacht als „Beweis“ dafür, dass sie erstere niemals hätten fordern dürfen. Tatsächlich spielte die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung eine zentrale Rolle für den Aufstieg der Bolschewiki zur Macht. Sie nutzten die Forderung, um die Bauernschaft zu mobilisieren und die Provisorische Regierung zu entlarven, die stets versuchte, die Einberufung der Versammlung zu verschieben. Es genügt, Punkt eins der von Lenin im Dezember 1917 verfassten „Thesen zur konstituierenden Versammlung“ zu zitieren:

„Die Forderung nach Einberufung der Konstituierenden Versammlung gehörte mit vollem Recht zum Programm der revolutionären Sozialdemokratie, da die Konstituierende Versammlung in der bürgerlichen Republik die höchste Form des Demokratismus ist und da die imperialistische Republik mit Kerenski an der Spitze bei der Bildung des Vorparlaments die Verfälschung der Wahlen und eine Reihe von Verstößen gegen den Demokratismus vorbereitete.“

Nur ein Formalist kann in der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung immer und überall einen Gegensatz sehen zu den Sowjets. Vielmehr ist die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung ein Keil, der zwischen die Massen und ihre verräterischen Führer getrieben werden soll, um erstere für die Perspektive der Sowjetmacht zu gewinnen. Die Bolschewiki lösten die konstituierende Versammlung erst auf, nachdem die Sowjetmacht errichtet worden war, d. h. erst zu dem Zeitpunkt, als die Massen im Kampf über das demokratische Programm hinausgewachsen waren und die Versammlung zu einem konterrevolutionären Werkzeug geworden war.

Das zentrale Argument im Spartacist-Artikel zu den Erfahrungen in China und der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung besteht aus einer Zusammenstellung von Verleumdungen unterschiedlichen Grades. Wir behaupten, dass Trotzkis Schriften zwischen 1928 und 1932 – als er die Losung einer konstituierenden Versammlung erneut aufstellte – „verworren und widersprüchlich“ sind, dass er diese Losung „fälschlicherweise“ aufstellte, „Spekulationen“ anstellte und „die vielen historischen Beispiele [ignorierte], wo die Bourgeoisie und ihre reformistischen Agenten eine gewählte Versammlung als Werkzeug gegen das aufständische Proletariat benutzt haben“. Trotzki erhob diese Forderung in China nach der Niederlage der Revolution von 1925–27 gegen den von Stalin und der Komintern verfolgten sektiererischen Kurs. Dieser Aufruf war ein entscheidendes Mittel zur Wiederherstellung der Autorität der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bei den arbeitenden Massen in der Zeit der konterrevolutionären Militärdiktatur der Guomindang. Trotzki war nicht „verworren“. Seine Schriften zu dieser Frage sind kristallklar. In Wirklichkeit erinnerte unsere Linie an Stalins Komintern von 1928, die diese Forderung als opportunistisch bezeichnete und sich weigerte, sie aufzustellen.

Diese Konferenz bekräftigt, dass die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung prinzipienfest ist. Natürlich missbrauchen viele Reformisten diese Forderung, um Illusionen in die bürgerliche Demokratie zu schüren. Diese Forderung allein ist nicht revolutionär. Sie muss in Verbindung mit einem revolutionären Programm aufgestellt werden, das die nationale Emanzipation und die Agrarfrage so angeht, dass es die Massen vereinigt und der Bourgeoisie entgegenstellt.

Die nationale Frage und stalinistische Unterdrückung

Die Spartacist-Tendenz wurde im Kampf gegen die kapitalistische Konterrevolution im Sowjetblock direkt mit der nationalen Frage konfrontiert, als die Imperialisten die Unterdrückung der nicht-russischen Nationen durch die Moskauer Bürokratie nutzten, um eine Reihe von Kräften für die Restauration des Kapitalismus aufzuhetzen. Die IKL stach heraus durch ihre bedingungslose Verteidigung der degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten. Ihr eigenes Programm jedoch unterminierte diesen Kampf durch die Ablehnung, den Kampf gegen nationale Unterdrückung als eine treibende Kraft für die proletarische politische Revolution zu nutzen, und überließ diese Waffe den Imperialisten und ihren Handlangern vor Ort. Das früheste und deutlichste Beispiel dafür war der Kampf in den 1980er-Jahren gegen die konterrevolutionäre Solidarność-Bewegung in Polen, deren Aufstieg und wachsende Unterstützung in der Arbeiterklasse vor allem auf der von den Massen tief empfundenen nationalen Unterdrückung durch die Herrschaft des Kremls beruhte.

Polen hatte jahrhundertelang unter nationaler Unterdrückung gelitten, bevor die Sowjetarmee einmarschierte und nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Enteignung der Bourgeoisie von oben einen Arbeiterstaat schuf. Dieser gesellschaftliche Umsturz war ein großer Sieg für die polnischen und sowjetischen Arbeiter, der gegen Imperialismus und Konterrevolution bedingungslos verteidigt werden musste. Doch wie in Ostdeutschland und in ganz Osteuropa ist der polnische Arbeiterstaat bürokratisch deformiert entstanden unter der Vorherrschaft der russischen stalinistischen Bürokratie, die Polens nationale Unterdrückung unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen fortsetzte. Der Grund dafür führt direkt zum Kern des stalinistischen Programms vom „Sozialismus in einem Land“. Die proletarische Revolution in einem Land oder sogar in mehreren Ländern eröffnet den Weg zu echter nationaler Gleichheit und zur Assimilation der Nationen. Aber dieses Ergebnis wird nur durch den Aufbau und die Entwicklung eines weltweiten sozialistischen Wirtschaftssystems erreicht werden, das das Problem des Mangels endgültig löst. Im Gegensatz zum Kampf für die Weltrevolution, der einzigen Möglichkeit, dieses Stadium zu erreichen, verteidigen die stalinistischen Regime von Moskau bis Beijing die privilegierte Stellung der dominierenden Nation in ihrer Gesellschaft.

Mit der Ausweitung der stalinistischen Herrschaft auf Osteuropa nach dem Krieg waren es nun die „Kommunisten“, die auf den Polen, Ungarn und anderen herumtrampelten. Trotzkisten mussten von Anfang an den Kampf für nationale Rechte und proletarische Demokratie in den Mittelpunkt ihres Programms für die politische Macht der Arbeiterklasse stellen, um die Errungenschaften der sozialen Revolution zu verteidigen und sie international auszuweiten. Aber genau das hat die IKL abgelehnt. Anstatt das Gefühl der nationalen Unterdrückung zu nutzen, um die Notwendigkeit einer politischen Revolution zu begründen, taten wir solche Gefühle als durch und durch konterrevolutionär ab und bezeichneten Äußerungen des Nationalismus von Unterdrückten als antisemitisch, klerikal, frauenfeindlich, nazi-freundlich usw. Das stand in krassem Widerspruch zu den Lehren aus Ungarn 1956, als eine sich entwickelnde politische Revolution der Arbeiter die Form eines nationalen Aufstandes gegen den Stalinismus annahm.

Das Dokument der internationalen Konferenz von 1992 fasste die Perspektive der IKL im Lichte des Zusammenbruchs der Sowjetunion so zusammen: „Der Zusammenbruch der stalinistischen Ordnung konnte entweder zur proletarisch-politischen Revolution oder zur kapitalistischen Konterrevolution führen, abhängig vom konjunkturellen politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse – der relativen Stärke der sozialistischen Bestrebungen gegen bürgerlich-demokratische Illusionen und antisowjetischen Nationalismus“ (Spartacist, deutschsprachige Ausgabe Nr. 15, Frühjahr 1993). Diese Erklärung griff eine wesentliche Wahrheit auf, nur um es dann so darzustellen, als gebe es einen völligen Gegensatz zwischen sozialistischem Bewusstsein und nationaldemokratischen Bestrebungen. Als die polnischen Konterrevolutionäre 1981 nach der Macht griffen, war es richtig, dass die Spartacist-Tendenz forderte: Stoppt die Konterrevolution von Solidarność! Die Frage war nur, wie?

Es war notwendig, die sozialistischen Bestrebungen der Arbeiter und die Verteidigung ihrer nationalen Rechte zu vereinen gegen die konterrevolutionären Nationalisten und die Stalinisten. Um die Arbeiter von Solidarność wegzubrechen, mussten die Trotzkisten erklären, dass deren Programm sie geradewegs in die imperialistische Knechtschaft führen würde, was ihre nationale Unterdrückung verstärken, die aus dem Sturz des Kapitalismus hervorgegangenen sozialen Errungenschaften zerstören und auch die Aussicht auf eine Vereinigung der polnischen und russischen Arbeiter im gemeinsamen Kampf gegen die stalinistische Misswirtschaft zunichtemachen würde. Dem mussten die Trotzkisten ein revolutionär-internationalistisches Programm entgegenstellen, das die Forderung nach einer unabhängigen polnischen Arbeiterrepublik mit den Forderungen verbindet, Jaruzelski und die Kreml-Bürokraten zu stürzen und polnische und sowjetische Arbeiter im Kampf gegen den Imperialismus zu vereinigen.

Da die Spartacist-Tendenz sich weigerte, den Kampf gegen die nationale Unterdrückung aufzunehmen, konnte sie nicht annähernd eine solche Perspektive der revolutionären Verteidigung bieten. Alles, was sie den Massen, die Moskaus Vorherrschaft hassten, stattdessen anbieten konnte, waren leere Appelle an die „historische Einheit“ der polnischen und russischen Arbeiter in Verbindung mit dem Vertrauen darauf, dass die verknöcherte bürokratische Kaste des Kremls den Arbeiterstaat verteidigt. Als das polnische und das sowjetische stalinistische Regime darangingen, Solidarność zu stoppen, stellte die Spartacist-Tendenz die trotzkistische Verteidigungspolitik mit folgender Erklärung auf den Kopf:

Falls die Kreml-Stalinisten in ihrer zwangsläufig brutalen, stumpfsinnigen Weise militärisch intervenieren, um ihn zu stoppen, werden wir das unterstützen. Und wir übernehmen die Verantwortung dafür im Voraus: Welche Idiotien und Scheußlichkeiten sie auch begehen werden, wir schrecken nicht vor der Verteidigung der Zerschlagung der Konterrevolution von Solidarność zurück.“

– „Stoppt die Konterrevolution der Solidarność“, Spartakist Nr. 40, Oktober 1981

Das war eine Erklärung zur politischen Unterstützung für die stalinistische Bürokratie, die im völligen Gegensatz stand zur Mobilisierung der Arbeiter in der UdSSR und in Polen dafür, die politische Macht den Stalinisten zu entreißen, deren ganzes Programm die Verteidigung der beiden Arbeiterstaaten unterminierte.

Als „theoretische“ Rechtfertigung für ihre Kapitulation vor dem Stalinismus in der nationalen Frage erklärte die IKL wiederholt, dass Selbstbestimmung und andere demokratische Fragen gegenüber der Verteidigung der Arbeiterstaaten, einer „Klassenfrage“, untergeordnet seien. Sicher gibt es viele historische Beispiele dafür, dass vom Imperialismus unterstützte Kräfte das nationaldemokratische Banner zur Mobilisierung für die Konterrevolution hochhalten, wie es die Menschewiki in Georgien während des russischen Bürgerkriegs taten. In solchen Fällen ist die Verteidigung des Arbeiterstaates die vorrangige Notwendigkeit des Augenblicks, aber damit verschwinden nicht die Realität der nationalen Unterdrückung und die Notwendigkeit, sie zu bekämpfen. Doch die IKL missbrauchte solche historischen Beispiele, um den Kampf für demokratische und nationale Rechte in den Arbeiterstaaten total abzulehnen. Dies stand im Widerspruch zu Lenins Kampf, jede Spur von großrussischem Chauvinismus im sowjetischen Arbeiterstaat zu beseitigen. Kurz nach der Niederlage der Menschewiki in Georgien führte Lenin seinen „letzten Kampf“ gegen Stalin und Konsorten, die den tief sitzenden georgischen Groll gegen die russische Unterdrückung bösartig mit Füßen traten. In einer Schrift, die eine Polemik gegen die IKL hätte sein können, schrieb Lenin:

„Man muss unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation…

Ein Georgier [gemeint sind Stalin und Ordschonikidse], der sich geringschätzig zu dieser Seite der Sache verhält, der leichtfertig mit Beschuldigungen des ‚Sozialnationalismus‘ um sich wirft (während er selbst ein wahrer und echter ‚Sozialnationalist‘, ja mehr noch, ein brutaler großrussischer Dershimorda [Polizist in Gogols Revisor, zu deutsch: Halt-die-Schnauze] ist), ein solcher Georgier verletzt im Grunde genommen die Interessen der proletarischen Klassensolidarität, weil nichts die Entwicklung und Festigung der proletarischen Klassensolidarität so sehr hemmt wie die nationale Ungerechtigkeit und weil die ‚gekränkten‘ nationalen Minderheiten für nichts ein so feines Gefühl haben wie für die Gleichheit und für die Verletzung dieser Gleichheit, sei es auch nur aus Fahrlässigkeit, sei es auch nur im Scherz, für die Verletzung dieser Gleichheit durch ihre Genossen Proletarier. Deshalb ist in diesem Falle ein Zuviel an Entgegenkommen und Nachgiebigkeit gegenüber den nationalen Minderheiten besser als ein Zuwenig. Deshalb erfordert in diesem Falle das grundlegende Interesse der proletarischen Solidarität und folglich auch des proletarischen Klassenkampfes, dass wir uns zur nationalen Frage niemals formal verhalten, sondern stets den obligatorischen Unterschied im Verhalten des Proletariers einer unterdrückten (oder kleinen) Nation zur unterdrückenden (oder großen) Nation berücksichtigen.“

– „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘ “ (Dezember 1922)

Im Gegensatz zu Lenins Kampf zog die IKL aus der Konterrevolution die Lehre, alle Äußerungen nationaler Gefühle in den Arbeiterstaaten noch schärfer als konterrevolutionär zu verurteilen. In diesem Zusammenhang nahm das Internationale Exekutivkomitee (IEK) im Oktober 1993 ein Dokument an, in dem Trotzkis Aufruf zur Unabhängigkeit der Sowjetukraine zurückgewiesen wurde (siehe „Über Trotzkis Eintreten für eine unabhängige Sowjet-Ukraine“, deutschsprachiger Spartacist Nr. 16, Herbst 1994). Trotzki erhob diesen dringenden Aufruf im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel, die gerechten nationalen Gefühle der ukrainischen Massen, die unter Stalins Stiefel brutal unterdrückt wurden, sowohl zur politischen Revolution in der Sowjetunion als auch zur sozialistischen Revolution im westlichen Gebiet der Ukraine hinzulenken, das damals unter kapitalistischer Herrschaft stand. Er forderte die Bolschewiki-Leninisten (Trotzkisten) ausdrücklich auf, sich für diese Sache einzusetzen, da dies notwendig sei, um die Errungenschaften des Oktobers gegen die Hitleristen und andere konterrevolutionäre Verfechter des ukrainischen Nationalismus zu verteidigen und auszuweiten.

Die IKL wollte nichts davon wissen. Das IEK-Dokument kleidete unsere Ablehnung von Trotzkis Aufruf verschämt in die Form einer empirischen Einschätzung der Situation im Jahr 1939 – z. B. habe Trotzki „die antisowjetische Haltung unter den ukrainischen Massen überschätzt“, während die nazifreundlichen ukrainischen Nationalisten „nie einen Massenanhang gewinnen [konnten]“. Außerdem wurde Trotzkis Position in eklatanter Weise verfälscht durch die Andeutung, er sei für eine politische Revolution eingetreten, die „national begrenzt auf die Ukraine“ wäre, wohingegen sie sich, wie wir schrieben, „von Anfang an [hätte] ausweiten müssen, was zu einem Entscheidungskampf gegen die stalinistische Bürokratie in der ganzen UdSSR geführt hätte“. Aber gerade um die politische Revolution in der UdSSR und die sozialistische Revolution im Westen voranzutreiben, forderte Trotzki eine unabhängige Sowjetukraine!

Der Schlussteil des Dokuments macht deutlich, dass der Zweck seiner tendenziösen Argumentation darin bestand, alle Forderungen nach Selbstbestimmung abzulehnen, die sich gegen die stalinistische Unterdrückung richteten. Es heißt dort, dass die nationalen Bewegungen, die in den letzten Jahren der Sowjetunion ausbrachen, „von Anfang an von offen prokapitalistischen und proimperialistischen Kräften organisiert, gefördert und geführt“ wurden und „allgemein als ein Mittel gesehen [wurden], die Restauration des Kapitalismus und die Integration in die westliche imperialistische Ordnung zu erreichen“. Aber gerade deshalb war es die Pflicht der Trotzkisten, einen kommunistischen Kampf für die nationalen Rechte der Völker Osteuropas und der Teilrepubliken der Sowjetunion zu führen und zu versuchen, die Massen von allen proimperialistischen Kräften loszureißen und sie für ein Programm des proletarischen Internationalismus zu gewinnen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die IKL ihre Ablehnung von Trotzkis Losung einer unabhängigen Sowjetukraine zurücknimmt. Dies ist nicht nur eine Frage der historischen Richtigstellung. In China haben die Imperialisten seit langem die Han-chauvinistische Unterdrückung der Tibeter, Uiguren und anderer durch die KPCh ausgenutzt, um den Sturz dieses Arbeiterstaates voranzutreiben. Das programmatische Herangehen Trotzkis wird dringend benötigt für eine Intervention, die Tibeter und Uiguren mit ihrem nationalen Groll von den Reaktionären wegzubringen und zur mächtigen Strömung der proletarischen Opposition gegen die stalinistische Herrschaft hinzuführen, wobei das Eintreten für das Recht auf Selbstbestimmung ein Hebel zur politischen Revolution ist, welche die Errungenschaften der Revolution von 1949 verteidigen und ausweiten muss.

Andererseits reicht es nicht aus, die Stalinisten einfach als „nationalistisch“ zu denunzieren, was wir in unserer alten Propaganda oft getan haben; notwendig ist es, darauf hinzuweisen, dass nur eine trotzkistische Führung die Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung in einem gemeinsamen Kampf gegen nationale Unterdrückung, Stalinismus, Konterrevolution und Imperialismus vereinigen kann. Die chinesischen Massen werden, wie auch die der anderen noch existierenden deformierten Arbeiterstaaten, wirtschaftlich vom Imperialismus unterjocht und stehen militärisch unter Druck, und ihr Nationalismus ist eine Reaktion auf diese Unterdrückung. In diesen Gesellschaften präsentieren sich die Stalinisten als Verteidiger der Nation gegen den Imperialismus. Aber obwohl die Errichtung von Arbeiterstaaten qualitative Schritte dahin waren, die Grundlage für eine echte nationale Befreiung zu schaffen, wird diese Befreiung auf Schritt und Tritt durch die stalinistischen Bürokratien und ihr Vertrauen auf eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Imperialismus behindert. Kurzum, der Stalinismus ist kein Programm für nationale Befreiung.


Mitte der 1970er-Jahre wurde die Spartacist-Tendenz über ihr Programm zur nationalen Frage und zum Imperialismus durch Edmund Samarakkody von der Revolutionary Workers Party (RWP) Sri Lankas herausgefordert. In umfangreichen Briefen benannte Samarakkody richtig die Hauptmängel in unserem Programm und wies auf unser Versäumnis hin, zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen zu unterscheiden, sowie auf unsere „einseitige Interessengleichheit zwischen den Imperialisten und der einheimischen Bourgeoisie“ und unsere Leugnung, dass der Imperialismus der „Hauptfeind der weltweiten Arbeiterklasse“ ist. In seinem Brief von 1975 erklärte er:

Aus der richtigen leninistisch-trotzkistischen Position, dass die nationale Bourgeoisie Handlanger des Imperialismus sind, zieht die SL [Spartacist League] die falsche Schlussfolgerung, dass es keinen Widerspruch zwischen der nationalen Bourgeoisie oder solchen feudalkapitalistischen Herrschern und den Imperialisten gibt. So kommt die SL zu dem Schluss, dass der Handlanger des Imperialismus – die nationale Bourgeoisie – in einem unterdrückten Land der Imperialismus selbst ist, und dass der einzige Kampf in den kolonialen und halbkolonialen Ländern im antikapitalistischen Kampf besteht, dass es keinen antiimperialistischen Kampf gibt.“

– „Nationale Frage: Differenzen zwischen RWP und SL/U.S.“, 31. Oktober 1975, International Discussion Bulletin Nr. 7 (März 1977)

Die politischen Schlussfolgerungen, die Samarakkody in Bezug auf Irland, Israel, Zypern und Québec zog, waren falsch, und wir hatten weitere Meinungsverschiedenheiten mit der RWP. Dennoch hatte er zu dieser Frage im Wesentlichen Recht mit seiner Kritik an unserer Methode. Seine Herausforderung war eine Gelegenheit für die Spartacist-Tendenz, sich grundlegend neu zu orientieren, aber stattdessen haben wir unseren revisionistischen Kurs noch verstärkt und uns von einer möglichen Fusion mit dieser Gruppe und überhaupt von der neokolonialen Welt abgeschottet.

Dieser Rahmen wurde erst mit dem Kampf zur nationalen Frage im Jahr 2017 zum ersten Mal angegriffen (siehe Spartacist, deutschsprachige Ausgabe Nr. 31, Herbst 2017). Jahrzehntelange chauvinistische Propaganda zu Québec und anderen Regionen wurde über den Haufen geworfen, und zum ersten Mal wurde die entscheidende Erkenntnis vorgebracht, dass der Kampf für nationale Befreiung eine treibende Kraft für die Revolution ist. Doch der politische Inhalt des Kampfes von 2017 war grundsätzlich fehlerhaft. Erstens war er von der Illusion geprägt, dass der historische Führer unserer Tendenz, Jim Robertson, eine richtige Herangehensweise an die nationale Frage hatte, und deshalb wurde an vielen Positionen festgehalten, die zur permanenten Revolution im Gegensatz stehen. Zweitens kann man nicht von „Leninismus in der nationalen Frage“ sprechen, ohne die Notwendigkeit einer kommunistischen Führung des Kampfes für die nationale Befreiung hervorzuheben. Da diese Frage beim Kampf von 2017 keine Rolle spielte, wurde das alte Programm einfach durch eine Variante des Liberalismus ersetzt, die gegenüber unterdrückten Nationen wohlwollender war. Schließlich, und das ist am wichtigsten, waren die Diskussionen, die mehr als sechs Monate lang die Partei erschütterten, völlig losgelöst von all dem, was zu dieser Zeit in der Welt geschah. So trug die VII. Internationale Konferenz der IKL nichts dazu bei, die Partei bei ihren Interventionen in der Welt anzuleiten.

Der Revisionismus der Spartacist-Tendenz zur permanenten Revolution hat unsere gesamte Arbeit gegenüber den unterdrückten Ländern gelähmt. Wenn wir so viel von unserer Geschichte überprüft und korrigiert haben, dann deshalb, weil dies eine notwendige Voraussetzung für den Kampf um die revolutionäre Führung im größten Teil der Welt ist. Wir werfen unsere stumpfe sektiererische Klinge weg und ersetzen sie durch das rasiermesserscharfe Programm des Leninismus. Die Aufgabe besteht nun darin, es zu handhaben. Wie Trotzki gewarnt hat:

„Man kann indessen dies als Gesetz betrachten: die ‚revolutionäre Organisation‘, die in unserer imperialistischen Epoche unfähig ist, in den Kolonien Wurzeln zu fassen, ist zu elendem Dahinvegetieren verurteilt.“

– „Eine ganz frische Lehre“, Oktober 1938